Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.gekehrt. Kein Wunder, daß die russische Diplomatie jeder anderen den Rang Das russische altgläubige Schisma z. B. ist ein Ding, von dem die 60*
gekehrt. Kein Wunder, daß die russische Diplomatie jeder anderen den Rang Das russische altgläubige Schisma z. B. ist ein Ding, von dem die 60*
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gekehrt. Kein Wunder, daß die russische Diplomatie jeder anderen den Rang
abläuft, — rechnet sie doch mit F.actoren, welche sie genau studirt hat, während
ihre Gegner, sobald es sich um specifisch russische Verhältnisse handelt, im Fin¬
stern tappen und nirgend Bescheid wissen. So ist es gekommen, daß Galizien,
Serbien und andere süd- und westslawische Länder in entschiedener Abhängigkeit
von russischen Einflüssen sind, daß Oestreich und die Türkei fortwährend unter
der Furcht vor dem mächtige» Nachbar leben, während kein europäischer Staat im
Stande ist, ir^endetwas bei einem der unter russischer Herrschaft stehenden Stämme
zu vermögen, alle Anläufe, auch nur dem revolutionären Polenthum eine be¬
stimmte Richtung zu geben, erfolglos geblieben sind. Zahlreiche officielle und
nichtofficielle Journale in Moskau und Petersburg sind fortwährend damit
beschäftigt, die Kunde- des occidentalen Völkerlebens nach Osten zu vermitteln,
kein Vorgang, mag er socialer oder politischer Natur, Deutsche odcr Engländer,
Skandinavier oder Romanen betreffen, entgeht ihrer genauen und sorgfältigen
Beobachtung. Im Westen dagegen erfährt man nicht das Nothdürftigste von
dem, was jenseit der Weichsel passirt, die Nachrichten, die man erhält, sind
entweder entstellt oder sie werden falsch verstanden, häusig auch vollständig
ignorirt.
Das russische altgläubige Schisma z. B. ist ein Ding, von dem die
Wenigsten bei uns überhaupt etwas wissen und doch gehört dasselbe zu den
merkwürdigsten kirchlichreligiösen Erscheinungen, die es überhaupt giebt: eine
Religionsgesellschaft, die zahlreicher ist als die gesammte Einwohnerschaft manches
europäischen Staates zweiten Ranges, deren Anschauungen den modernen Zu¬
ständen, russischen wie außerrussischen, mit unvermittelter Schroffheit gegenüber¬
stehen, von der jeder Gebildete selbstverständlich ausgeschlossen ist, die von
geheimen Oberen, die für harmlose Kaufleute und Handwerker gelten, in
unbeschränktester Weise beherrscht und geleitet wird, deren Fäden vom mittel¬
ländischen bis zum schwarzen Meer, von den Einöden Sibiriens bis in die
Straßen von Konstantinopel reichen und die doch kaum dem Namen nach
bekannt ist! Mit vielen anderen nicht minder wichtigen Erscheinungen russischen
Lebens ist es ebenso oder doch wenig besser bestellt und man wundert sich noch,
daß dieser Staat täglich an Macht und Einfluß wächst, daß sein Wille für
Millionen von Unterthanen fremder Herrscher und Länder allein maßgebend ist
und daß alle Mittel, welche zur Bekämpfung der slawischen Präponderanz an¬
gewandt werden, nicht ausreichen und dem Wachsthum des Panslawismus mehr
förderlich als hinderlich gewesen sind? Wer den Verhältnissen, von denen hier
gehandelt worden, irgend näher gestanden, den kann es nicht Wunder nehmen,
daß dem so ist und daß die Russen sich den Westeuropäern überlegen glauben;
während sie den Westen genau kennen, weiß man von ihnen wenig mehr, als
ju den Zeiten Peters des Großen oder seiner altmoskowitischen Vorgänger.
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