Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.gefaßten Meinungen ans Werk gegangen ist, denn es liegt auf der Hand, daß er Bei so bewandten Umständen ist es nicht zu verwundern, daß beide oben Das Buch des verstorbenen Dr. Lorenz, eines nach Se. Petersburg versprengten, gefaßten Meinungen ans Werk gegangen ist, denn es liegt auf der Hand, daß er Bei so bewandten Umständen ist es nicht zu verwundern, daß beide oben Das Buch des verstorbenen Dr. Lorenz, eines nach Se. Petersburg versprengten, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0249" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/191479"/> <p xml:id="ID_752" prev="#ID_751"> gefaßten Meinungen ans Werk gegangen ist, denn es liegt auf der Hand, daß er<lb/> seine Arbeit gar nickt unternommen hätte, wenn er nicht ein lebhaftes poliiischcs<lb/> Interesse mitgebracht hätte. Wesentlich anders steht es um Monographien.<lb/> Handelt es sich um die Spccialgcschichtc eines bestimmten Staats oder eines enger<lb/> begrenzten Zeitraums, so wird in der Regel anzunehmen sein, daß der betreffende<lb/> Autor im Stande gewesen, auf die letzten Quellen zurückzugehen und neues Material<lb/> mitzubringen; für seine nothwendige Befangenheit in Partcianschauungen werden<lb/> wir mithin entschädigt. Bei einer europäischen Universalgeschichte der neueren Zeit<lb/> ist das gradezu unmöglich. Im besten Fall wird dem Leser eine aus der Zusammen¬<lb/> stellung und sorgfältigen Vergleichung verschiedener Zeitungsberichte hervorgegangene<lb/> Chronik geboten, welche den Parteimann ihrer Kälte wegen unbefriedigt läßt,<lb/> dem gänzlich Thcilnahmloscn immer noch nicht unparteiisch genug zu sein scheint.<lb/> Die Unmöglichkeit einer wirklich wissenschaftlichen Durchdringung und Verarbeitung<lb/> des Stoffs bedingt es, daß populäre Darstellungen der Zeitgeschichte die Mängel<lb/> aller historischen Partcischriftstellerci mit denen verbinden, welche in der Regel Ge-<lb/> schichtswerken anhaften, welche einen großen Stoff in die Enge eines kleinen Nah¬<lb/> mens bringen wollen und darum genöthigt sind. die lebensvollen Gestalten der<lb/> maßgebenden Männer zu Mumien zusammenzupressen. So steht es im besten Fall,<lb/> — von den Füllen nicht zu reden, in denen die Zeitgeschichte zum bloßen Umschlag<lb/> tendenziöser Agitation gebraucht wird.</p><lb/> <p xml:id="ID_753"> Bei so bewandten Umständen ist es nicht zu verwundern, daß beide oben<lb/> genannte Bücher, und ganz besonders das lorcnzsche, den Eindruck einer gewissen<lb/> Dürre machen. Immerhin ist ihnen darum ein gewisses Verdienst nicht abzusprechen.<lb/> Daß das Volk Gelegenheit gewinnt, ohne allzu große Opfer an Zeit und Geld<lb/> eine genauere und zusammenhängende Kunde von den Ereignissen zu erhalten, welche<lb/> dem letzten großen, historisch gewordenen Ereigniß, der Erhebung von t8l3 gefolgt<lb/> sind, ist an und für sich wichtig, denn die Geschichte — mag ihre Darstellung eine<lb/> noch so mangelhafte fein — ist immer eine sehr viel bessere politische Lehrerin, als<lb/> es der doctrinäre Parteikatcchismus sein kann.</p><lb/> <p xml:id="ID_754" next="#ID_755"> Das Buch des verstorbenen Dr. Lorenz, eines nach Se. Petersburg versprengten,<lb/> sehr tüchtigen norddeutschen Pädagogen (480 S. gr. 8) ist das Product solider,<lb/> gewissenhafter Arbeit. Dem Verf. merkt man an, daß er den Mittelpunkten deutschen<lb/> und westeuropäischen Lebens längere Zeit hindurch entrückt gewesen ist und in Ver¬<lb/> hältnissen gelebt hat, die jede Art der Betheiligung am öffentlichen Leben ausschlossen.<lb/> Sein Standpunkt ist wesentlich der des deutschen Gelehrten vor der Julirevolution<lb/> — er hält es mit der bestehenden Autorität und will bei aller Klarheit über die<lb/> Mängel derselben, bei allem Streben nach möglichster Berücksichtigung der öffentlichen<lb/> Wohlfahrt und der Anforderungen des Zeitgeistes, das Recht des Volks an einer Mit¬<lb/> wirkung bei Staatsangelegenheiten doch möglichst behutsam eingeschränkt, am liebsten<lb/> gar nicht zur Geltung gebracht sehen. Während er das mcttcrnichsche -meinen rSZime<lb/> mit Entschiedenheit verurtheilt, die konservative Politik des Kaisers Nikolaus als ver¬<lb/> fehlt bezeichnet, sieht er in der 48er Erhebung doch wesentlich ein unberechtigtes<lb/> Auflehnen der Massen gegen die bestehende Ordnung; selbst die Opposition des ver¬<lb/> einigten Landtags von 1847 scheint ihm alles Maß zu überschreiten, mit Bitterkeit<lb/> klagt er über die undankbare Beurtheilung Friedrich Wilhelms des Vierten und die<lb/> Schmach von Olmütz, rechnet er dem Könige, der „Selbstüberwindung genug besaß,<lb/> dem Vaterlande seinen Stolz zum Opfer zu bringen", als Verdienst an, „denn wer<lb/> kann zweifeln, daß alle bösen Leidenschaften erwacht wären, daß Stammesstolz und<lb/> Confcssionshaß sich eingemischt, und einen Brand angefacht hätten, der nicht anders<lb/> als mit Strömen von Blut hätte gelöscht werden können." Mit Anschauungen<lb/> dieser Art läßt sich selbstverständlich nicht rechten. Man würde indessen irren, wenn<lb/> man den Verf. darum für einen Kreuzzcitungsmann halten und zu den Todten wer-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0249]
gefaßten Meinungen ans Werk gegangen ist, denn es liegt auf der Hand, daß er
seine Arbeit gar nickt unternommen hätte, wenn er nicht ein lebhaftes poliiischcs
Interesse mitgebracht hätte. Wesentlich anders steht es um Monographien.
Handelt es sich um die Spccialgcschichtc eines bestimmten Staats oder eines enger
begrenzten Zeitraums, so wird in der Regel anzunehmen sein, daß der betreffende
Autor im Stande gewesen, auf die letzten Quellen zurückzugehen und neues Material
mitzubringen; für seine nothwendige Befangenheit in Partcianschauungen werden
wir mithin entschädigt. Bei einer europäischen Universalgeschichte der neueren Zeit
ist das gradezu unmöglich. Im besten Fall wird dem Leser eine aus der Zusammen¬
stellung und sorgfältigen Vergleichung verschiedener Zeitungsberichte hervorgegangene
Chronik geboten, welche den Parteimann ihrer Kälte wegen unbefriedigt läßt,
dem gänzlich Thcilnahmloscn immer noch nicht unparteiisch genug zu sein scheint.
Die Unmöglichkeit einer wirklich wissenschaftlichen Durchdringung und Verarbeitung
des Stoffs bedingt es, daß populäre Darstellungen der Zeitgeschichte die Mängel
aller historischen Partcischriftstellerci mit denen verbinden, welche in der Regel Ge-
schichtswerken anhaften, welche einen großen Stoff in die Enge eines kleinen Nah¬
mens bringen wollen und darum genöthigt sind. die lebensvollen Gestalten der
maßgebenden Männer zu Mumien zusammenzupressen. So steht es im besten Fall,
— von den Füllen nicht zu reden, in denen die Zeitgeschichte zum bloßen Umschlag
tendenziöser Agitation gebraucht wird.
Bei so bewandten Umständen ist es nicht zu verwundern, daß beide oben
genannte Bücher, und ganz besonders das lorcnzsche, den Eindruck einer gewissen
Dürre machen. Immerhin ist ihnen darum ein gewisses Verdienst nicht abzusprechen.
Daß das Volk Gelegenheit gewinnt, ohne allzu große Opfer an Zeit und Geld
eine genauere und zusammenhängende Kunde von den Ereignissen zu erhalten, welche
dem letzten großen, historisch gewordenen Ereigniß, der Erhebung von t8l3 gefolgt
sind, ist an und für sich wichtig, denn die Geschichte — mag ihre Darstellung eine
noch so mangelhafte fein — ist immer eine sehr viel bessere politische Lehrerin, als
es der doctrinäre Parteikatcchismus sein kann.
Das Buch des verstorbenen Dr. Lorenz, eines nach Se. Petersburg versprengten,
sehr tüchtigen norddeutschen Pädagogen (480 S. gr. 8) ist das Product solider,
gewissenhafter Arbeit. Dem Verf. merkt man an, daß er den Mittelpunkten deutschen
und westeuropäischen Lebens längere Zeit hindurch entrückt gewesen ist und in Ver¬
hältnissen gelebt hat, die jede Art der Betheiligung am öffentlichen Leben ausschlossen.
Sein Standpunkt ist wesentlich der des deutschen Gelehrten vor der Julirevolution
— er hält es mit der bestehenden Autorität und will bei aller Klarheit über die
Mängel derselben, bei allem Streben nach möglichster Berücksichtigung der öffentlichen
Wohlfahrt und der Anforderungen des Zeitgeistes, das Recht des Volks an einer Mit¬
wirkung bei Staatsangelegenheiten doch möglichst behutsam eingeschränkt, am liebsten
gar nicht zur Geltung gebracht sehen. Während er das mcttcrnichsche -meinen rSZime
mit Entschiedenheit verurtheilt, die konservative Politik des Kaisers Nikolaus als ver¬
fehlt bezeichnet, sieht er in der 48er Erhebung doch wesentlich ein unberechtigtes
Auflehnen der Massen gegen die bestehende Ordnung; selbst die Opposition des ver¬
einigten Landtags von 1847 scheint ihm alles Maß zu überschreiten, mit Bitterkeit
klagt er über die undankbare Beurtheilung Friedrich Wilhelms des Vierten und die
Schmach von Olmütz, rechnet er dem Könige, der „Selbstüberwindung genug besaß,
dem Vaterlande seinen Stolz zum Opfer zu bringen", als Verdienst an, „denn wer
kann zweifeln, daß alle bösen Leidenschaften erwacht wären, daß Stammesstolz und
Confcssionshaß sich eingemischt, und einen Brand angefacht hätten, der nicht anders
als mit Strömen von Blut hätte gelöscht werden können." Mit Anschauungen
dieser Art läßt sich selbstverständlich nicht rechten. Man würde indessen irren, wenn
man den Verf. darum für einen Kreuzzcitungsmann halten und zu den Todten wer-
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