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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band.

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til schien unbetheiligt im vorliegenden Streit. England war durch Jahrhun-
derte der Verbündete Deutschlands, in vielen europäischen Fragen der letzten
Jahrzehnte auch der Alliirte Frankreichs gewesen. Es hatte dem preußischen
Thronerben seine Gemahlin, dem französischen Staatslenker in bitteren Tagen
Asyl geboten. Und vor allem hatte das Unterpfand englischer Treue, das Eh¬
renwort des dreieinigen Königreichs einen guten untadelhafter Klang in Europa,
den auch die in der langlebigen Regierungszeit Lord Palmerstons so oft frivol-
materialistische auswärtige Politik nicht zu untergraben vermocht halte. Wahr¬
lich solcher Erinnerungen und Erwägungen, solchen Vertrauens in die Person
des Vermittlers bedürfte es, uns Deutsche versöhnlich zu stimmen! Denn wir
allein waren dazu ausersehen, dem Ausgleich wirkliche Opfer zu bringen: den
Verzicht auf wohlerworbene Rechte, das Aufgeben einer durchaus wichtigen stra¬
tegischen Position, die Lockerung des staatsrechtlichen Bandes zweier deutscher
Fürstenthümer mit Deutschland. Und was mehr war als dies: wir sollten die
erlittene schwere Unbill ohne Entgelt verwinden, und einen uns immerdar dro¬
henden Nationalkampf mit Frankreich ruhig auf Zeiten vertagen, die für uns
kaum günstiger, für unsre Gegner kaum so trostlos sein konnten, als im
Frühling 1867.

Als eine durchaus billige Forderung mußte es daher betrachtet werden,
daß Preußens Vertreter auf der londoner Konferenz die denkbar stärkste und solideste
Garantie dafür verlangten, daß aus dem Verzicht auf das preußische Besatzungs¬
recht in Luxemburg und der Schleifung der Festung dem drohenden Nachbar
im Westen nicht directe Vortheile erwüchsen. Diesem Anspruch konnte nur da¬
durch annähernd genügt werden, daß Luxemburg für schlechterdings und unter
allen Umständen neutral erklärt wurde, "und diese Neutralität die nach modernem
Völkerrecht stringenteste und rückhaltloseste Garantie aller Contractsmächte
fände".

Dies war es, was Preußen von der Konferenz verlangte. Denn die völ¬
kerrechtliche bloße Anerkennung der Neutralität eines Staates feiten der eu¬
ropäischen Großmächte war nach den letzten 60 Jahren in den bedenklichsten
Geruch gekommen. Der nach den wiener Verträgen von 1815 als neutral
anerkannte Freistaat Krakau bildet längst einen integrirenden Bestandtheil der
östreichischen Monarchie. Das zur selben Zeit unter Anrufung der si. Drei¬
einigkeit neutral erklärte Savoyen bot das erste Paradigma für das moderns-
Zeitwort annectiren. Bei jedem ernsten europäischen Conflict steigen den an¬
erkannt neutralen Bürgern der Schweiz und Belgiens über die Unsicherheit ihrer
Neutralität die Haare zu Berge, und man sieht dann ihre Gesandten in alle
Länder fliegen, um die vernarbte rettende Jmpfspur der Neutralität sich wieder
auffrischen zu lassen. Für Luxemburgs Neutralität suchte und fand Preußen
festere Formen -- leider nur Formen!


til schien unbetheiligt im vorliegenden Streit. England war durch Jahrhun-
derte der Verbündete Deutschlands, in vielen europäischen Fragen der letzten
Jahrzehnte auch der Alliirte Frankreichs gewesen. Es hatte dem preußischen
Thronerben seine Gemahlin, dem französischen Staatslenker in bitteren Tagen
Asyl geboten. Und vor allem hatte das Unterpfand englischer Treue, das Eh¬
renwort des dreieinigen Königreichs einen guten untadelhafter Klang in Europa,
den auch die in der langlebigen Regierungszeit Lord Palmerstons so oft frivol-
materialistische auswärtige Politik nicht zu untergraben vermocht halte. Wahr¬
lich solcher Erinnerungen und Erwägungen, solchen Vertrauens in die Person
des Vermittlers bedürfte es, uns Deutsche versöhnlich zu stimmen! Denn wir
allein waren dazu ausersehen, dem Ausgleich wirkliche Opfer zu bringen: den
Verzicht auf wohlerworbene Rechte, das Aufgeben einer durchaus wichtigen stra¬
tegischen Position, die Lockerung des staatsrechtlichen Bandes zweier deutscher
Fürstenthümer mit Deutschland. Und was mehr war als dies: wir sollten die
erlittene schwere Unbill ohne Entgelt verwinden, und einen uns immerdar dro¬
henden Nationalkampf mit Frankreich ruhig auf Zeiten vertagen, die für uns
kaum günstiger, für unsre Gegner kaum so trostlos sein konnten, als im
Frühling 1867.

Als eine durchaus billige Forderung mußte es daher betrachtet werden,
daß Preußens Vertreter auf der londoner Konferenz die denkbar stärkste und solideste
Garantie dafür verlangten, daß aus dem Verzicht auf das preußische Besatzungs¬
recht in Luxemburg und der Schleifung der Festung dem drohenden Nachbar
im Westen nicht directe Vortheile erwüchsen. Diesem Anspruch konnte nur da¬
durch annähernd genügt werden, daß Luxemburg für schlechterdings und unter
allen Umständen neutral erklärt wurde, „und diese Neutralität die nach modernem
Völkerrecht stringenteste und rückhaltloseste Garantie aller Contractsmächte
fände".

Dies war es, was Preußen von der Konferenz verlangte. Denn die völ¬
kerrechtliche bloße Anerkennung der Neutralität eines Staates feiten der eu¬
ropäischen Großmächte war nach den letzten 60 Jahren in den bedenklichsten
Geruch gekommen. Der nach den wiener Verträgen von 1815 als neutral
anerkannte Freistaat Krakau bildet längst einen integrirenden Bestandtheil der
östreichischen Monarchie. Das zur selben Zeit unter Anrufung der si. Drei¬
einigkeit neutral erklärte Savoyen bot das erste Paradigma für das moderns-
Zeitwort annectiren. Bei jedem ernsten europäischen Conflict steigen den an¬
erkannt neutralen Bürgern der Schweiz und Belgiens über die Unsicherheit ihrer
Neutralität die Haare zu Berge, und man sieht dann ihre Gesandten in alle
Länder fliegen, um die vernarbte rettende Jmpfspur der Neutralität sich wieder
auffrischen zu lassen. Für Luxemburgs Neutralität suchte und fand Preußen
festere Formen — leider nur Formen!


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_191229/154>, abgerufen am 15.01.2025.