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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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zehnten-Jahrhunderts der unermüdliche Aufspürer jedes antiken Restes, der
große Handschriftcnentdccker Poggio Bracciolini nur noch fünf marmorne und
eine bronzene Statue im ganzen Umfang der ewigen Stadt auffinden! In¬
dessen bald änderte sich dies; unablässige Nachgrabungen wurden von fast regel¬
mäßigem Erfolge gekrönt, die Masse der Kunstwerke wuchs rasch zu stattlicher
Zahl. Wohl war es zunächst weniger das wissenschaftliche als ein künstlerisches
Interesse, mit dem mau sowohl deu schriftlichen wie den baulichen und bild¬
lichen Resten des Alterthums gegcnübcrtrat und dieselben zu freiem Schalten
und Walten, zu willkürlicher Ergänzung und zu eigner Nachbildung sich an¬
eignete. Aber man sammelte doch, man hegte und pflegte mit liebevollem Eifer,
was bis dahin unbeachtet gelegen hatte oder gar muthwillig zerstört worden
wgr. So ward der wissenschaftlichen Benutzung wenigstens der Stoff bereitet,
wenn auch die jugendliche, im Vollgefühl eigner Schöpferkraft schwelgende
Philologie der Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts selber
kaum den Anfang mit der Verwerthung machte.

Um die Mitte des letztgenannten Jahrhunderts siedelte die Philologie nach
Frankreich über, dann nach kurzer Blüthe, infolge der Hugenottenkämpfe, nach
den Niederlanden. Joseph Justus Scaliger ist der vollendetste Repräsentant
dieser Entwickelungsstufe, von Familie ein Italiener, das Haupt der französischen,
der Begründer der niederländischen Philologie. Aus dem Dilettantismus und
dem Birtuoscnthum bildete sich die ernste strenge Wissenschaft hervor, die ihren
Zweck in sich selbst hat, nicht für die Interessen des Tages arbeitet, deren Ziel
nicht das dem Einzelnen schön und gefällig Erscheinende, sondern das objectiv
Wahre, das Echte ist. Da war es aber vcrhcingnißvoll, daß der Sitz der
Wissenschaft sich immer weiter von dem Boden entfernte, auf dem das Alter¬
thum selber sein Leben entfaltet und die Zeugnisse desselben hinterlassen hatte.
Dieser Uebelstand machte sich vielleicht weniger bei den kritischen und linguisti¬
schen Arbeiten geltend, obgleich auch hier die Anschauung der antiken Reste wie
der fortlebenden antiken Sitte und die Vertrautheit mit manchen aus dem Latein
überkommenen Spracheigenthümlichkeiten vor Abwegen und vor Leblosigkeit der
Auffassung hätte bewahren können. Weit empfindlicher ward jene Entfernung
vom classischen Boden natürlich bei allen den Bestrebungen fühlbar, welche darauf
gerichtet waren, die realen Seiten des Alterthums zu erforschen und darzustellen.
Es fehlte nicht an der eifrigsten Thätigkeit auf diesem Gebiet. Casaubonus und
Salmasius, Lipsius und Meursius und so manche andre neben ihnen waren
unermüdlich thätig, um mit staunenswerther Gelehrsamkeit aus der alten Literatur
das Leben und die Einrichtungen der Griechen und Römer nach den verschie¬
densten Seiten hin aufzuhellen. Aber kaum hier und da wird einmal das eine
oder das andre Monument herbeigezogen, um diese oder jene Schwierigkeit in
den Werken der Schriftsteller damit zu beleuchten. Der Herausgeber von Sal-


zehnten-Jahrhunderts der unermüdliche Aufspürer jedes antiken Restes, der
große Handschriftcnentdccker Poggio Bracciolini nur noch fünf marmorne und
eine bronzene Statue im ganzen Umfang der ewigen Stadt auffinden! In¬
dessen bald änderte sich dies; unablässige Nachgrabungen wurden von fast regel¬
mäßigem Erfolge gekrönt, die Masse der Kunstwerke wuchs rasch zu stattlicher
Zahl. Wohl war es zunächst weniger das wissenschaftliche als ein künstlerisches
Interesse, mit dem mau sowohl deu schriftlichen wie den baulichen und bild¬
lichen Resten des Alterthums gegcnübcrtrat und dieselben zu freiem Schalten
und Walten, zu willkürlicher Ergänzung und zu eigner Nachbildung sich an¬
eignete. Aber man sammelte doch, man hegte und pflegte mit liebevollem Eifer,
was bis dahin unbeachtet gelegen hatte oder gar muthwillig zerstört worden
wgr. So ward der wissenschaftlichen Benutzung wenigstens der Stoff bereitet,
wenn auch die jugendliche, im Vollgefühl eigner Schöpferkraft schwelgende
Philologie der Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts selber
kaum den Anfang mit der Verwerthung machte.

Um die Mitte des letztgenannten Jahrhunderts siedelte die Philologie nach
Frankreich über, dann nach kurzer Blüthe, infolge der Hugenottenkämpfe, nach
den Niederlanden. Joseph Justus Scaliger ist der vollendetste Repräsentant
dieser Entwickelungsstufe, von Familie ein Italiener, das Haupt der französischen,
der Begründer der niederländischen Philologie. Aus dem Dilettantismus und
dem Birtuoscnthum bildete sich die ernste strenge Wissenschaft hervor, die ihren
Zweck in sich selbst hat, nicht für die Interessen des Tages arbeitet, deren Ziel
nicht das dem Einzelnen schön und gefällig Erscheinende, sondern das objectiv
Wahre, das Echte ist. Da war es aber vcrhcingnißvoll, daß der Sitz der
Wissenschaft sich immer weiter von dem Boden entfernte, auf dem das Alter¬
thum selber sein Leben entfaltet und die Zeugnisse desselben hinterlassen hatte.
Dieser Uebelstand machte sich vielleicht weniger bei den kritischen und linguisti¬
schen Arbeiten geltend, obgleich auch hier die Anschauung der antiken Reste wie
der fortlebenden antiken Sitte und die Vertrautheit mit manchen aus dem Latein
überkommenen Spracheigenthümlichkeiten vor Abwegen und vor Leblosigkeit der
Auffassung hätte bewahren können. Weit empfindlicher ward jene Entfernung
vom classischen Boden natürlich bei allen den Bestrebungen fühlbar, welche darauf
gerichtet waren, die realen Seiten des Alterthums zu erforschen und darzustellen.
Es fehlte nicht an der eifrigsten Thätigkeit auf diesem Gebiet. Casaubonus und
Salmasius, Lipsius und Meursius und so manche andre neben ihnen waren
unermüdlich thätig, um mit staunenswerther Gelehrsamkeit aus der alten Literatur
das Leben und die Einrichtungen der Griechen und Römer nach den verschie¬
densten Seiten hin aufzuhellen. Aber kaum hier und da wird einmal das eine
oder das andre Monument herbeigezogen, um diese oder jene Schwierigkeit in
den Werken der Schriftsteller damit zu beleuchten. Der Herausgeber von Sal-


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[0056] zehnten-Jahrhunderts der unermüdliche Aufspürer jedes antiken Restes, der große Handschriftcnentdccker Poggio Bracciolini nur noch fünf marmorne und eine bronzene Statue im ganzen Umfang der ewigen Stadt auffinden! In¬ dessen bald änderte sich dies; unablässige Nachgrabungen wurden von fast regel¬ mäßigem Erfolge gekrönt, die Masse der Kunstwerke wuchs rasch zu stattlicher Zahl. Wohl war es zunächst weniger das wissenschaftliche als ein künstlerisches Interesse, mit dem mau sowohl deu schriftlichen wie den baulichen und bild¬ lichen Resten des Alterthums gegcnübcrtrat und dieselben zu freiem Schalten und Walten, zu willkürlicher Ergänzung und zu eigner Nachbildung sich an¬ eignete. Aber man sammelte doch, man hegte und pflegte mit liebevollem Eifer, was bis dahin unbeachtet gelegen hatte oder gar muthwillig zerstört worden wgr. So ward der wissenschaftlichen Benutzung wenigstens der Stoff bereitet, wenn auch die jugendliche, im Vollgefühl eigner Schöpferkraft schwelgende Philologie der Italiener des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts selber kaum den Anfang mit der Verwerthung machte. Um die Mitte des letztgenannten Jahrhunderts siedelte die Philologie nach Frankreich über, dann nach kurzer Blüthe, infolge der Hugenottenkämpfe, nach den Niederlanden. Joseph Justus Scaliger ist der vollendetste Repräsentant dieser Entwickelungsstufe, von Familie ein Italiener, das Haupt der französischen, der Begründer der niederländischen Philologie. Aus dem Dilettantismus und dem Birtuoscnthum bildete sich die ernste strenge Wissenschaft hervor, die ihren Zweck in sich selbst hat, nicht für die Interessen des Tages arbeitet, deren Ziel nicht das dem Einzelnen schön und gefällig Erscheinende, sondern das objectiv Wahre, das Echte ist. Da war es aber vcrhcingnißvoll, daß der Sitz der Wissenschaft sich immer weiter von dem Boden entfernte, auf dem das Alter¬ thum selber sein Leben entfaltet und die Zeugnisse desselben hinterlassen hatte. Dieser Uebelstand machte sich vielleicht weniger bei den kritischen und linguisti¬ schen Arbeiten geltend, obgleich auch hier die Anschauung der antiken Reste wie der fortlebenden antiken Sitte und die Vertrautheit mit manchen aus dem Latein überkommenen Spracheigenthümlichkeiten vor Abwegen und vor Leblosigkeit der Auffassung hätte bewahren können. Weit empfindlicher ward jene Entfernung vom classischen Boden natürlich bei allen den Bestrebungen fühlbar, welche darauf gerichtet waren, die realen Seiten des Alterthums zu erforschen und darzustellen. Es fehlte nicht an der eifrigsten Thätigkeit auf diesem Gebiet. Casaubonus und Salmasius, Lipsius und Meursius und so manche andre neben ihnen waren unermüdlich thätig, um mit staunenswerther Gelehrsamkeit aus der alten Literatur das Leben und die Einrichtungen der Griechen und Römer nach den verschie¬ densten Seiten hin aufzuhellen. Aber kaum hier und da wird einmal das eine oder das andre Monument herbeigezogen, um diese oder jene Schwierigkeit in den Werken der Schriftsteller damit zu beleuchten. Der Herausgeber von Sal-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/56>, abgerufen am 30.06.2024.