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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts, freilich nicht in der von Cusanus
gewellten, auf den Vortheil der Reichsgewalt berechneten, dem Ganzen zu Gute
kommenden Weise, immerhin aber im Wege der Säcularisationen zur Aus¬
führung gelangt, und a" der einzigen Stelle, wo die weltliche Gewalt des
Kirchenfüistcn noch heute besteht, bildet ihre Aufhebung eine brennende Frage
unsrer Zeit.

Und wenn wir endlich die Borschläge des Cusanus zur Umgestaltung der
deutschen Reichsverfassung überblicken, seine Vorschläge zur Wiederherstellung
einer kräftigen und einheitlichen Reichscentralgewalt, zur Schöpfung eines aus
Volkselementen zusammengesetzten Reichstags mit wichtigen Functionen im Ge¬
biete der Gesetzgebung und Reichsfinanzen, zur Errichtung eines einheitlich aus¬
gebildeten stehenden Neichsheeres unter dem alleinigen Commando des Neichs-
oberhauptes und zur Unterhaltung desselben aus den kaiserlichen Zöllen und den
Beiträgen der Reichsstände in die gemeinsame Reichskasse, -- so scheinen sie in
der That nach einem Schlummer von 400 Jahren gleichsam wieder erwacht und
auferstanden in dem, was in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland in
gleicher Richtung, wenn auch -- entsprechend den veränderten Bedürfnissen --
mit veränderten Zielpunkten, mit immer neuem Drange erstrebt worden ist und
noch erstrebt wird.

Ich sagte vorhin, daß die Reformpläne des Cusanus zu seinen Lebzeiten
nur mit Feuer und Schwert durchzuführen gewesen wären. Nun, der entschei¬
dende Kampf mit Feuer und Schwert hat im verflossenen Jahre stattgefunden;
und heute stehen wir auf den Trümmern des alten Bundes, mitten in der
Arbeit des Neubaues. Möchte dieser auch in dem Geiste, wie Cusanus ihn ge¬
wollt, im Geiste eines wahrhaft innerlichen Ausgleichs der verschiedenen Inter¬
essen, in dem Geiste der Versöhnung sich vollenden! Und möchte endlich Niko¬
laus Cusanus auch darin als Prophet sich erweisen, daß er bei allen seinen
Planen als letztes Ziel immerdar das ganze, das ungetheilte und unzerrissene
Reich vor Augen hatte!


Gottfried Theodor Stichling.


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des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts, freilich nicht in der von Cusanus
gewellten, auf den Vortheil der Reichsgewalt berechneten, dem Ganzen zu Gute
kommenden Weise, immerhin aber im Wege der Säcularisationen zur Aus¬
führung gelangt, und a» der einzigen Stelle, wo die weltliche Gewalt des
Kirchenfüistcn noch heute besteht, bildet ihre Aufhebung eine brennende Frage
unsrer Zeit.

Und wenn wir endlich die Borschläge des Cusanus zur Umgestaltung der
deutschen Reichsverfassung überblicken, seine Vorschläge zur Wiederherstellung
einer kräftigen und einheitlichen Reichscentralgewalt, zur Schöpfung eines aus
Volkselementen zusammengesetzten Reichstags mit wichtigen Functionen im Ge¬
biete der Gesetzgebung und Reichsfinanzen, zur Errichtung eines einheitlich aus¬
gebildeten stehenden Neichsheeres unter dem alleinigen Commando des Neichs-
oberhauptes und zur Unterhaltung desselben aus den kaiserlichen Zöllen und den
Beiträgen der Reichsstände in die gemeinsame Reichskasse, — so scheinen sie in
der That nach einem Schlummer von 400 Jahren gleichsam wieder erwacht und
auferstanden in dem, was in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland in
gleicher Richtung, wenn auch — entsprechend den veränderten Bedürfnissen —
mit veränderten Zielpunkten, mit immer neuem Drange erstrebt worden ist und
noch erstrebt wird.

Ich sagte vorhin, daß die Reformpläne des Cusanus zu seinen Lebzeiten
nur mit Feuer und Schwert durchzuführen gewesen wären. Nun, der entschei¬
dende Kampf mit Feuer und Schwert hat im verflossenen Jahre stattgefunden;
und heute stehen wir auf den Trümmern des alten Bundes, mitten in der
Arbeit des Neubaues. Möchte dieser auch in dem Geiste, wie Cusanus ihn ge¬
wollt, im Geiste eines wahrhaft innerlichen Ausgleichs der verschiedenen Inter¬
essen, in dem Geiste der Versöhnung sich vollenden! Und möchte endlich Niko¬
laus Cusanus auch darin als Prophet sich erweisen, daß er bei allen seinen
Planen als letztes Ziel immerdar das ganze, das ungetheilte und unzerrissene
Reich vor Augen hatte!


Gottfried Theodor Stichling.


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[0481] des vorigen und des jetzigen Jahrhunderts, freilich nicht in der von Cusanus gewellten, auf den Vortheil der Reichsgewalt berechneten, dem Ganzen zu Gute kommenden Weise, immerhin aber im Wege der Säcularisationen zur Aus¬ führung gelangt, und a» der einzigen Stelle, wo die weltliche Gewalt des Kirchenfüistcn noch heute besteht, bildet ihre Aufhebung eine brennende Frage unsrer Zeit. Und wenn wir endlich die Borschläge des Cusanus zur Umgestaltung der deutschen Reichsverfassung überblicken, seine Vorschläge zur Wiederherstellung einer kräftigen und einheitlichen Reichscentralgewalt, zur Schöpfung eines aus Volkselementen zusammengesetzten Reichstags mit wichtigen Functionen im Ge¬ biete der Gesetzgebung und Reichsfinanzen, zur Errichtung eines einheitlich aus¬ gebildeten stehenden Neichsheeres unter dem alleinigen Commando des Neichs- oberhauptes und zur Unterhaltung desselben aus den kaiserlichen Zöllen und den Beiträgen der Reichsstände in die gemeinsame Reichskasse, — so scheinen sie in der That nach einem Schlummer von 400 Jahren gleichsam wieder erwacht und auferstanden in dem, was in den letzten zwanzig Jahren in Deutschland in gleicher Richtung, wenn auch — entsprechend den veränderten Bedürfnissen — mit veränderten Zielpunkten, mit immer neuem Drange erstrebt worden ist und noch erstrebt wird. Ich sagte vorhin, daß die Reformpläne des Cusanus zu seinen Lebzeiten nur mit Feuer und Schwert durchzuführen gewesen wären. Nun, der entschei¬ dende Kampf mit Feuer und Schwert hat im verflossenen Jahre stattgefunden; und heute stehen wir auf den Trümmern des alten Bundes, mitten in der Arbeit des Neubaues. Möchte dieser auch in dem Geiste, wie Cusanus ihn ge¬ wollt, im Geiste eines wahrhaft innerlichen Ausgleichs der verschiedenen Inter¬ essen, in dem Geiste der Versöhnung sich vollenden! Und möchte endlich Niko¬ laus Cusanus auch darin als Prophet sich erweisen, daß er bei allen seinen Planen als letztes Ziel immerdar das ganze, das ungetheilte und unzerrissene Reich vor Augen hatte! Gottfried Theodor Stichling. 60*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/481>, abgerufen am 22.12.2024.