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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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wenig die Kaisermacht die Oberhand gewann, wie dies unter Karl dem Fünften
eine Zeit lang geschah, sanken jene reichsständigen Rechtsinstitute alsbald zur
Ohnmacht herab und das "Reichsregimcnt" ward bekanntlich wieder völlig auf¬
gehoben; sobald aber die Reichsstände siegten (und das war ja zum Heile des
deutschen Geistes das bleibende Resultat der Rcfvrmationskämpfe und des dreißig¬
jährigen Krieges) ward die Kaisermacht immer mehr zu einem bloßen Schatten
herabgedrückt; der westphälische Friede gab diesem Zustande die bleibende völker¬
rechtliche Weihe und erhielt das Reich in ihm, bis die großen europäischen Er¬
schütterungen der napoleonischen Zeit auch die leere Form noch zertrümmerten
und die einzelnen Bestandtheile des Reichs auch äußerlich als das hinstellten,
was sie längst schon geworden waren, als eine Reihe verbündeter selbständiger
Staaten ohne einheitliches Oberhaupt.

Wenn also nur der ein Staatsmann zu nennen ist, der seine Pläne den
zur Zeit gegebenen Möglichkeiten der Ausführung anpaßt, so ist Cusanus kein
Staatsmann gewesen. Denn seine Gedanken eilten seiner Zeit weit voraus.
Wenn aber der ein Prophet genannt zu werden verdient, dessen Vorschläge
nach Jahrhunderten doch noch zur Geltung und Ausführung kommen, so ist
Nikolaus Cusanus ein politischer Prophet im eminenten Sinne, denn seine
Gedanken hat das vierte der folgenden Jahrhunderte in wunderbarer Weise er¬
füllt und ist noch in ihrer Erfüllung begriffen.

Der Grundgedanke, der durch alle Betrachtungen und Vorschläge des Cu¬
sanus sich hindurchzieht, daß ein gesunder Staatskörper so organisirt sein müsse,
daß sei" Leben auf fortlaufender Uebereinstimmung zwischen Regierenden und
Regierten und zu diesem Zwecke die Gesetze auf der Zustimmung des Volks,
durch dessen erwählte Vertreter ausgesprochen, beruhen, daß den einzelnen Be¬
standtheilen ihre berechtigte Lebensäußerung und Entwickelung, allen eine fried¬
liche Ausgleichung der verschiedenen Interessen anstatt einer Bedrückung und
Erdrückung der Einen durch die Andern gesichert, das Ganze also von einer
wahrhaft innerlichen Concordanz anstatt einer mechanischen Einheit getragen
sei; -- es ist dies derselbe leitende Gedanke, in dessen Verwirklichung bei aller
Mannigfaltigkeit im Einzelnen am Ende das ganze Streben unserer modernen
Staatskunst aufgeht.

Der Plan des Cusanus. die vaterländischen Rcchtsgewohnheiten zu sammeln,
in ein Gesetzbuch zusammenzufassen und dadurch vor der Ueberfluthung durch
das eindringende römische Recht zu schützen, zu damaliger Zeit nicht verstanden
noch beachtet, hat erst in diesem Jahrhundert -- leider zu spät -- die ver¬
diente Würdigung gefunden und die Früchte getrieben, die er jetzt noch treiben
konnte.

Der Gedanke des Cusanus ferner, die geistlichen Reichsfürsten ihrer welt¬
lichen Herrschaft zu entkleiden, ist in den staatlichen Umwälzungen an der Wende


wenig die Kaisermacht die Oberhand gewann, wie dies unter Karl dem Fünften
eine Zeit lang geschah, sanken jene reichsständigen Rechtsinstitute alsbald zur
Ohnmacht herab und das „Reichsregimcnt" ward bekanntlich wieder völlig auf¬
gehoben; sobald aber die Reichsstände siegten (und das war ja zum Heile des
deutschen Geistes das bleibende Resultat der Rcfvrmationskämpfe und des dreißig¬
jährigen Krieges) ward die Kaisermacht immer mehr zu einem bloßen Schatten
herabgedrückt; der westphälische Friede gab diesem Zustande die bleibende völker¬
rechtliche Weihe und erhielt das Reich in ihm, bis die großen europäischen Er¬
schütterungen der napoleonischen Zeit auch die leere Form noch zertrümmerten
und die einzelnen Bestandtheile des Reichs auch äußerlich als das hinstellten,
was sie längst schon geworden waren, als eine Reihe verbündeter selbständiger
Staaten ohne einheitliches Oberhaupt.

Wenn also nur der ein Staatsmann zu nennen ist, der seine Pläne den
zur Zeit gegebenen Möglichkeiten der Ausführung anpaßt, so ist Cusanus kein
Staatsmann gewesen. Denn seine Gedanken eilten seiner Zeit weit voraus.
Wenn aber der ein Prophet genannt zu werden verdient, dessen Vorschläge
nach Jahrhunderten doch noch zur Geltung und Ausführung kommen, so ist
Nikolaus Cusanus ein politischer Prophet im eminenten Sinne, denn seine
Gedanken hat das vierte der folgenden Jahrhunderte in wunderbarer Weise er¬
füllt und ist noch in ihrer Erfüllung begriffen.

Der Grundgedanke, der durch alle Betrachtungen und Vorschläge des Cu¬
sanus sich hindurchzieht, daß ein gesunder Staatskörper so organisirt sein müsse,
daß sei» Leben auf fortlaufender Uebereinstimmung zwischen Regierenden und
Regierten und zu diesem Zwecke die Gesetze auf der Zustimmung des Volks,
durch dessen erwählte Vertreter ausgesprochen, beruhen, daß den einzelnen Be¬
standtheilen ihre berechtigte Lebensäußerung und Entwickelung, allen eine fried¬
liche Ausgleichung der verschiedenen Interessen anstatt einer Bedrückung und
Erdrückung der Einen durch die Andern gesichert, das Ganze also von einer
wahrhaft innerlichen Concordanz anstatt einer mechanischen Einheit getragen
sei; — es ist dies derselbe leitende Gedanke, in dessen Verwirklichung bei aller
Mannigfaltigkeit im Einzelnen am Ende das ganze Streben unserer modernen
Staatskunst aufgeht.

Der Plan des Cusanus. die vaterländischen Rcchtsgewohnheiten zu sammeln,
in ein Gesetzbuch zusammenzufassen und dadurch vor der Ueberfluthung durch
das eindringende römische Recht zu schützen, zu damaliger Zeit nicht verstanden
noch beachtet, hat erst in diesem Jahrhundert — leider zu spät — die ver¬
diente Würdigung gefunden und die Früchte getrieben, die er jetzt noch treiben
konnte.

Der Gedanke des Cusanus ferner, die geistlichen Reichsfürsten ihrer welt¬
lichen Herrschaft zu entkleiden, ist in den staatlichen Umwälzungen an der Wende


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/480>, abgerufen am 01.10.2024.