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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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man sich bei uns in Deutschland kaum eine Vorstellung machen kann. Das Be¬
streben des in den niederen Classen vertretenen Volksstamms, sich den herrschenden
Classen zu assimiliren, ist so mächtig, daß kein Kriterium zur Feststellung des
Nacenunterschiedcs ausreicht. Wonach will ma" entscheiden, ob ein Galizier, der
nicht etwa Bauer, griechisch-unirter Geistlicher oder russischer Parteiführer ist,
der russischen oder der polnischen Nationalität angehört? Soll etwa die Sprache
maßgebend sein? Wer je in zweisprachigen Ländern gelebt bat, wird wissen,
daß eine Sprache, die für die der Gebildeten gilt, von allen Personen, welche
zu dieser Classe in Beziehung stehen, mit gradezu leidenschaftlichem Eiser gelernt
und gesprochen wird. In den erwähnten westrussischen Provinzen ist es That¬
sache, daß die Mehrzahl der bäuerlichen Knechte, welche auf polnischen Edel-
höfen leben, sich die Sprache ihrer Herren angeeignet hat und sich mit Vorliebe
in derselben ausdrückt, daß in den Städten die Kaufleute und Handwerker
russischer Extraction schon in der zweiten Generation mehr polnisch als russisch
reden, ja daß selbst die Offiziere der russischen Garnisonen Wilnas oder Kownos,
wenn sie längere Zeit am Orte bleiben, dem Einfluß der polnischen Gesellschaft
unterliegen und es vermeiden, im Privatleben eine Sprache zu reden, die in
allen ehemals polnischen Ländern zu der der Bauern und des niederen Volkes
geworden ist.

Dem magischen Reiz, den das Bewußtsein, der herrschenden Classe anzu¬
gehören, namentlich auf Halbgebildete ausübt, widersteht sichs allenthalben nur
schwer: in Galizien giebt es keine russische Regierung, die Beamte und Gar¬
nisonen ihrer Nationalität ins Land schicken und nach Bedürfniß wechseln kann.
Das russische Element wird von außen her weder materiell noch moralisch
unterstützt -- wie soll es hier zugehen, daß zwischen Polen und Russen eine
unverrückbar feste Grenze gezogen werde? Grade wie in den westrussischen
Provinzen ist das Kriterium der Sprache auch hier nicht ausreichend, um die
Nationalität zu bestimmen, weil ein bedeutender, numerisch nicht bestimmbarer
Bruchtheil der Bevölkerung, dessen russische Abstammung nicht geläugnet werden
kann, sich den Polen zuzählt und für die Interessen derselben gewonnen ist. --
Ebenso steht es mit der Bestimmung des Nationalunterschiedes durch das religiöse
Bekenntniß; auch dieser Damm hält gegen den Andrang überlegener Cultur nicht
Stand. In Galizien wie in Lithauen giebt es zahlreiche Personen des Mittel¬
standes und des Adels, welche der griechischen Kirche angehören und sich doch
für Polen ansehen; daß es der russischen Partei gelungen ist, einzelne dem
griechischen Bekenntniß angebönge Adelsfamilien Galiziens für die Sache ihrer
Nationalität zu gewinnen, rechnet dieselbe zu ihren größten Triumphen -- die
Mehrzahl jener Geschlechter hielt es mit den Polen und wird es mit den Polen
halten, so lange die Zugehörigkeit zu diesen die Theilnahme an der gebildeten
Gesellschaft bedingt. In den russischen Zeitungen sind die Klagen darüber, daß


man sich bei uns in Deutschland kaum eine Vorstellung machen kann. Das Be¬
streben des in den niederen Classen vertretenen Volksstamms, sich den herrschenden
Classen zu assimiliren, ist so mächtig, daß kein Kriterium zur Feststellung des
Nacenunterschiedcs ausreicht. Wonach will ma» entscheiden, ob ein Galizier, der
nicht etwa Bauer, griechisch-unirter Geistlicher oder russischer Parteiführer ist,
der russischen oder der polnischen Nationalität angehört? Soll etwa die Sprache
maßgebend sein? Wer je in zweisprachigen Ländern gelebt bat, wird wissen,
daß eine Sprache, die für die der Gebildeten gilt, von allen Personen, welche
zu dieser Classe in Beziehung stehen, mit gradezu leidenschaftlichem Eiser gelernt
und gesprochen wird. In den erwähnten westrussischen Provinzen ist es That¬
sache, daß die Mehrzahl der bäuerlichen Knechte, welche auf polnischen Edel-
höfen leben, sich die Sprache ihrer Herren angeeignet hat und sich mit Vorliebe
in derselben ausdrückt, daß in den Städten die Kaufleute und Handwerker
russischer Extraction schon in der zweiten Generation mehr polnisch als russisch
reden, ja daß selbst die Offiziere der russischen Garnisonen Wilnas oder Kownos,
wenn sie längere Zeit am Orte bleiben, dem Einfluß der polnischen Gesellschaft
unterliegen und es vermeiden, im Privatleben eine Sprache zu reden, die in
allen ehemals polnischen Ländern zu der der Bauern und des niederen Volkes
geworden ist.

Dem magischen Reiz, den das Bewußtsein, der herrschenden Classe anzu¬
gehören, namentlich auf Halbgebildete ausübt, widersteht sichs allenthalben nur
schwer: in Galizien giebt es keine russische Regierung, die Beamte und Gar¬
nisonen ihrer Nationalität ins Land schicken und nach Bedürfniß wechseln kann.
Das russische Element wird von außen her weder materiell noch moralisch
unterstützt — wie soll es hier zugehen, daß zwischen Polen und Russen eine
unverrückbar feste Grenze gezogen werde? Grade wie in den westrussischen
Provinzen ist das Kriterium der Sprache auch hier nicht ausreichend, um die
Nationalität zu bestimmen, weil ein bedeutender, numerisch nicht bestimmbarer
Bruchtheil der Bevölkerung, dessen russische Abstammung nicht geläugnet werden
kann, sich den Polen zuzählt und für die Interessen derselben gewonnen ist. —
Ebenso steht es mit der Bestimmung des Nationalunterschiedes durch das religiöse
Bekenntniß; auch dieser Damm hält gegen den Andrang überlegener Cultur nicht
Stand. In Galizien wie in Lithauen giebt es zahlreiche Personen des Mittel¬
standes und des Adels, welche der griechischen Kirche angehören und sich doch
für Polen ansehen; daß es der russischen Partei gelungen ist, einzelne dem
griechischen Bekenntniß angebönge Adelsfamilien Galiziens für die Sache ihrer
Nationalität zu gewinnen, rechnet dieselbe zu ihren größten Triumphen — die
Mehrzahl jener Geschlechter hielt es mit den Polen und wird es mit den Polen
halten, so lange die Zugehörigkeit zu diesen die Theilnahme an der gebildeten
Gesellschaft bedingt. In den russischen Zeitungen sind die Klagen darüber, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/386>, abgerufen am 04.07.2024.