Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

nach dem Kriege, der Venetien mit dem Königreiche vereinigte, dessen Ausgang
freie Bahn schuf für die ungestörte Wiederaufnahme der inneren Arbeiten, fängt
die Kammer wieder an in ihrer kleinlichen negativen Weise. Die Regierung
legt, nunmehr auf das letzte Ziel, auf Rom bedacht, und gleichzeitig im In¬
teresse der Ordnung der Finanzen, einen großartigen Gesehentwurf vor, der
das Angebot an Rom für den verzieht auf die weltliche Herrschaft formulirt,
der den Streit zwischen Kirche und Staat beilegen und das Deficit schließen
soll. Das Gesetz bietet ohne Zweifel der Kritik seine schwachen Seiten dar, es
ist einerseits von bedenklicher Kühnheit und verräth wieder andererseits ebenso
bedenkliche Zaghaftigkeit; es ist zum mindesten verbesserungsbedürftig, auch
wenn die Grundlagen sich als wohlerwogen erweisen. Aber daß nun die Kam¬
mer mit einem solchen Gesetzentwurf binnen 24 Stunden fertig ist, daß sie mit
chevaleresker Leichtfertigkeit die Verwerfung beschließt, bevor sie noch recht die ein¬
gehenden Motive der Regierung gelesen hat, daß sie uicht etwa die ihr anstö¬
ßigen Punkte präcisirt, sondern das Gesetz in Bausch und Bogen abthut, daß
sie es nicht einmal der Mühe werth findet, in öffentlicher Debatte die Recht¬
fertigung der Minister abzuwarten, oder ihrerseits Gegenanträge zu formuliren,
dies ist denn doch eine so eigenthümliche Auffassung der parlamentarischen
Pflichten, daß sie ernstliche Besorgnisse für die Zukunft des parlamentarischen
Systems veranlaßt.

In der That scheint die gemäßigt liberale Presse nicht zu übertreiben, wenn
sie gradezu das constitutionelle System für gefährdet erklärt. Die Gefahr
kommt nicht von oben, niemand will Hand an die freisinnigen Institutionen
legen; sie kommt von unten, vom Parlament selbst, das auf dem Punkte steht,
das parlamentarische System zu discrcditiren. Man darf hierbei wohl auch
daran erinnern, daß die Abgeordneten fortwährend ihre persönlichen Verpflich¬
tungen auf die leichte Schulter genommen haben. In der Regel ist nur die
Hälfte aller Abgeordneten versammelt, und ein schlimmeres Beispiel ließe sich
dem Volke gar nicht geben. Selbst die Eröffnung einer so ungewöhnlichen
Session, die mit der Ankündigung der Annexion Vcnetiens und der Räumung
Roms begann, selbst die Vorlage des wichtigen Kirchengesetzes hat die Bänke
nicht zu füllen vermocht, und das entscheidende Votum, das Nicasoli zum Rück¬
tritt nöthigte, ist mit wenig mehr als der Hälfte der Abgeordneten gefällt
worden. Die Bestimmung, daß die Abgeordneten keine Diäten erhalten, hat
sich in Italien wenigstens nicht bewährt.

Aber noch mehr. Dem parlamentarischen Gezänk ist es zum großen Theil
zu verdanken, daß die Arbeiten der Consolidirung des Staats, der finanziellen
Ordnung, des administrativen Aufbaus noch so weit zurück sind. Man kann
sich des Gedankens nicht erwehren: die bedeutendste" Fortschritte sind dadurch
geschehen, daß die Regierung sich außerordentliche Vollmachten übertragen ließ.


nach dem Kriege, der Venetien mit dem Königreiche vereinigte, dessen Ausgang
freie Bahn schuf für die ungestörte Wiederaufnahme der inneren Arbeiten, fängt
die Kammer wieder an in ihrer kleinlichen negativen Weise. Die Regierung
legt, nunmehr auf das letzte Ziel, auf Rom bedacht, und gleichzeitig im In¬
teresse der Ordnung der Finanzen, einen großartigen Gesehentwurf vor, der
das Angebot an Rom für den verzieht auf die weltliche Herrschaft formulirt,
der den Streit zwischen Kirche und Staat beilegen und das Deficit schließen
soll. Das Gesetz bietet ohne Zweifel der Kritik seine schwachen Seiten dar, es
ist einerseits von bedenklicher Kühnheit und verräth wieder andererseits ebenso
bedenkliche Zaghaftigkeit; es ist zum mindesten verbesserungsbedürftig, auch
wenn die Grundlagen sich als wohlerwogen erweisen. Aber daß nun die Kam¬
mer mit einem solchen Gesetzentwurf binnen 24 Stunden fertig ist, daß sie mit
chevaleresker Leichtfertigkeit die Verwerfung beschließt, bevor sie noch recht die ein¬
gehenden Motive der Regierung gelesen hat, daß sie uicht etwa die ihr anstö¬
ßigen Punkte präcisirt, sondern das Gesetz in Bausch und Bogen abthut, daß
sie es nicht einmal der Mühe werth findet, in öffentlicher Debatte die Recht¬
fertigung der Minister abzuwarten, oder ihrerseits Gegenanträge zu formuliren,
dies ist denn doch eine so eigenthümliche Auffassung der parlamentarischen
Pflichten, daß sie ernstliche Besorgnisse für die Zukunft des parlamentarischen
Systems veranlaßt.

In der That scheint die gemäßigt liberale Presse nicht zu übertreiben, wenn
sie gradezu das constitutionelle System für gefährdet erklärt. Die Gefahr
kommt nicht von oben, niemand will Hand an die freisinnigen Institutionen
legen; sie kommt von unten, vom Parlament selbst, das auf dem Punkte steht,
das parlamentarische System zu discrcditiren. Man darf hierbei wohl auch
daran erinnern, daß die Abgeordneten fortwährend ihre persönlichen Verpflich¬
tungen auf die leichte Schulter genommen haben. In der Regel ist nur die
Hälfte aller Abgeordneten versammelt, und ein schlimmeres Beispiel ließe sich
dem Volke gar nicht geben. Selbst die Eröffnung einer so ungewöhnlichen
Session, die mit der Ankündigung der Annexion Vcnetiens und der Räumung
Roms begann, selbst die Vorlage des wichtigen Kirchengesetzes hat die Bänke
nicht zu füllen vermocht, und das entscheidende Votum, das Nicasoli zum Rück¬
tritt nöthigte, ist mit wenig mehr als der Hälfte der Abgeordneten gefällt
worden. Die Bestimmung, daß die Abgeordneten keine Diäten erhalten, hat
sich in Italien wenigstens nicht bewährt.

Aber noch mehr. Dem parlamentarischen Gezänk ist es zum großen Theil
zu verdanken, daß die Arbeiten der Consolidirung des Staats, der finanziellen
Ordnung, des administrativen Aufbaus noch so weit zurück sind. Man kann
sich des Gedankens nicht erwehren: die bedeutendste» Fortschritte sind dadurch
geschehen, daß die Regierung sich außerordentliche Vollmachten übertragen ließ.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0380" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190539"/>
          <p xml:id="ID_1266" prev="#ID_1265"> nach dem Kriege, der Venetien mit dem Königreiche vereinigte, dessen Ausgang<lb/>
freie Bahn schuf für die ungestörte Wiederaufnahme der inneren Arbeiten, fängt<lb/>
die Kammer wieder an in ihrer kleinlichen negativen Weise. Die Regierung<lb/>
legt, nunmehr auf das letzte Ziel, auf Rom bedacht, und gleichzeitig im In¬<lb/>
teresse der Ordnung der Finanzen, einen großartigen Gesehentwurf vor, der<lb/>
das Angebot an Rom für den verzieht auf die weltliche Herrschaft formulirt,<lb/>
der den Streit zwischen Kirche und Staat beilegen und das Deficit schließen<lb/>
soll. Das Gesetz bietet ohne Zweifel der Kritik seine schwachen Seiten dar, es<lb/>
ist einerseits von bedenklicher Kühnheit und verräth wieder andererseits ebenso<lb/>
bedenkliche Zaghaftigkeit; es ist zum mindesten verbesserungsbedürftig, auch<lb/>
wenn die Grundlagen sich als wohlerwogen erweisen. Aber daß nun die Kam¬<lb/>
mer mit einem solchen Gesetzentwurf binnen 24 Stunden fertig ist, daß sie mit<lb/>
chevaleresker Leichtfertigkeit die Verwerfung beschließt, bevor sie noch recht die ein¬<lb/>
gehenden Motive der Regierung gelesen hat, daß sie uicht etwa die ihr anstö¬<lb/>
ßigen Punkte präcisirt, sondern das Gesetz in Bausch und Bogen abthut, daß<lb/>
sie es nicht einmal der Mühe werth findet, in öffentlicher Debatte die Recht¬<lb/>
fertigung der Minister abzuwarten, oder ihrerseits Gegenanträge zu formuliren,<lb/>
dies ist denn doch eine so eigenthümliche Auffassung der parlamentarischen<lb/>
Pflichten, daß sie ernstliche Besorgnisse für die Zukunft des parlamentarischen<lb/>
Systems veranlaßt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1267"> In der That scheint die gemäßigt liberale Presse nicht zu übertreiben, wenn<lb/>
sie gradezu das constitutionelle System für gefährdet erklärt. Die Gefahr<lb/>
kommt nicht von oben, niemand will Hand an die freisinnigen Institutionen<lb/>
legen; sie kommt von unten, vom Parlament selbst, das auf dem Punkte steht,<lb/>
das parlamentarische System zu discrcditiren. Man darf hierbei wohl auch<lb/>
daran erinnern, daß die Abgeordneten fortwährend ihre persönlichen Verpflich¬<lb/>
tungen auf die leichte Schulter genommen haben. In der Regel ist nur die<lb/>
Hälfte aller Abgeordneten versammelt, und ein schlimmeres Beispiel ließe sich<lb/>
dem Volke gar nicht geben. Selbst die Eröffnung einer so ungewöhnlichen<lb/>
Session, die mit der Ankündigung der Annexion Vcnetiens und der Räumung<lb/>
Roms begann, selbst die Vorlage des wichtigen Kirchengesetzes hat die Bänke<lb/>
nicht zu füllen vermocht, und das entscheidende Votum, das Nicasoli zum Rück¬<lb/>
tritt nöthigte, ist mit wenig mehr als der Hälfte der Abgeordneten gefällt<lb/>
worden. Die Bestimmung, daß die Abgeordneten keine Diäten erhalten, hat<lb/>
sich in Italien wenigstens nicht bewährt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1268" next="#ID_1269"> Aber noch mehr. Dem parlamentarischen Gezänk ist es zum großen Theil<lb/>
zu verdanken, daß die Arbeiten der Consolidirung des Staats, der finanziellen<lb/>
Ordnung, des administrativen Aufbaus noch so weit zurück sind. Man kann<lb/>
sich des Gedankens nicht erwehren: die bedeutendste» Fortschritte sind dadurch<lb/>
geschehen, daß die Regierung sich außerordentliche Vollmachten übertragen ließ.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0380] nach dem Kriege, der Venetien mit dem Königreiche vereinigte, dessen Ausgang freie Bahn schuf für die ungestörte Wiederaufnahme der inneren Arbeiten, fängt die Kammer wieder an in ihrer kleinlichen negativen Weise. Die Regierung legt, nunmehr auf das letzte Ziel, auf Rom bedacht, und gleichzeitig im In¬ teresse der Ordnung der Finanzen, einen großartigen Gesehentwurf vor, der das Angebot an Rom für den verzieht auf die weltliche Herrschaft formulirt, der den Streit zwischen Kirche und Staat beilegen und das Deficit schließen soll. Das Gesetz bietet ohne Zweifel der Kritik seine schwachen Seiten dar, es ist einerseits von bedenklicher Kühnheit und verräth wieder andererseits ebenso bedenkliche Zaghaftigkeit; es ist zum mindesten verbesserungsbedürftig, auch wenn die Grundlagen sich als wohlerwogen erweisen. Aber daß nun die Kam¬ mer mit einem solchen Gesetzentwurf binnen 24 Stunden fertig ist, daß sie mit chevaleresker Leichtfertigkeit die Verwerfung beschließt, bevor sie noch recht die ein¬ gehenden Motive der Regierung gelesen hat, daß sie uicht etwa die ihr anstö¬ ßigen Punkte präcisirt, sondern das Gesetz in Bausch und Bogen abthut, daß sie es nicht einmal der Mühe werth findet, in öffentlicher Debatte die Recht¬ fertigung der Minister abzuwarten, oder ihrerseits Gegenanträge zu formuliren, dies ist denn doch eine so eigenthümliche Auffassung der parlamentarischen Pflichten, daß sie ernstliche Besorgnisse für die Zukunft des parlamentarischen Systems veranlaßt. In der That scheint die gemäßigt liberale Presse nicht zu übertreiben, wenn sie gradezu das constitutionelle System für gefährdet erklärt. Die Gefahr kommt nicht von oben, niemand will Hand an die freisinnigen Institutionen legen; sie kommt von unten, vom Parlament selbst, das auf dem Punkte steht, das parlamentarische System zu discrcditiren. Man darf hierbei wohl auch daran erinnern, daß die Abgeordneten fortwährend ihre persönlichen Verpflich¬ tungen auf die leichte Schulter genommen haben. In der Regel ist nur die Hälfte aller Abgeordneten versammelt, und ein schlimmeres Beispiel ließe sich dem Volke gar nicht geben. Selbst die Eröffnung einer so ungewöhnlichen Session, die mit der Ankündigung der Annexion Vcnetiens und der Räumung Roms begann, selbst die Vorlage des wichtigen Kirchengesetzes hat die Bänke nicht zu füllen vermocht, und das entscheidende Votum, das Nicasoli zum Rück¬ tritt nöthigte, ist mit wenig mehr als der Hälfte der Abgeordneten gefällt worden. Die Bestimmung, daß die Abgeordneten keine Diäten erhalten, hat sich in Italien wenigstens nicht bewährt. Aber noch mehr. Dem parlamentarischen Gezänk ist es zum großen Theil zu verdanken, daß die Arbeiten der Consolidirung des Staats, der finanziellen Ordnung, des administrativen Aufbaus noch so weit zurück sind. Man kann sich des Gedankens nicht erwehren: die bedeutendste» Fortschritte sind dadurch geschehen, daß die Regierung sich außerordentliche Vollmachten übertragen ließ.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/380
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/380>, abgerufen am 04.07.2024.