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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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ein beliebiges und auch sonst beliebtes Motiv, wie z. B. den Kirchenraub unter¬
legte. Für diese Auffassung spricht besonders der Umstand, daß die Sage einige
Male ohne jedes Motiv, also doch sicher in unvollständiger Gestalt erzählt wird.
Von da ist zu eigenmächtiger Erzänzung nur el" Schritt.

Abgesehen von der unbefriedigender Einseitigkeit der ethischen Erklärung
erhebt sich gegen dieselbe noch ein Einwand viel allgemeinerer Art. Wo es sich
um Ueberreste des Glaubens unserer heidnischen Vorältern handelt, dürfen wir
ebenso wie in den Mythologien der anderen indogermanischen Völker immer
erst in letzter Reihe an sittliche Mächte, an rein geistige Gewalten denken, in
erster dagegen an blos natürliche Kräfte, an sinnliche Erscheinungen. Von der
Verehrung der in der sinnlichen Natur wirksamen Kräfte, deren Uebermacht das
hilflose Menschenkind empfindet, geht alle Religion aus! Sonne und Mond,
Wind und Wolken. Donner und Blitz und ihre Wechselwirkungen unter ein¬
ander wie auf die Erde, in den Jahreszeiten zumal, sind die Elemente, aus
denen die Mythologie ihre Gebilde schafft; in ihnen walten die Mächte, an
welche der Naturmensch glaubt. Sobald er zu der Wahrnehmung durchgedrungen
ist, daß von den Erscheinungen des Himmels, deren wechselndes Spiel zuerst
nur seine Phantasie gereizt hatte, der Segen der irdischen Fluren, mithin sein
eigenes Wohlergehen bestimmt wird, entsteht in' ihm das Gefühl der Abhängig¬
keit von höheren Mächten, welches die Wurzel aller Religiosität ist. An die
bange Furcht vor den Schrecken der Natur schließt sich der frohe Dank für ihre
Segnungen: diesem Ausdruck zu geben, jene zu beschwichtigen, ist Zweck des
Cultus aller Naturreligionen. Ihre Feste sind nur dramatische Wiederholungen
der himmlische" Vorgänge.

In einem Himmelsstriche wie der des mittleren Asiens, der Wiege der
europäischen Menschheit, unter welchem die Uebergänge der Jahreszeiten bei
weiten, schroffer und gewaltsamer sind als in unserm kühlen Norte", mußten
jene Erscheinungen auch viel eindrucksvoller sein und der zerstörende wie der
befruchtende Einfluß der himmlischen Kräfte alle Sinne des Menschen gleichsam
gefangen nehmen. Fern aber lag seinem kindlichen Verstände jeder Gedanke
an allgemeine Gesetze und ihre Wirkungen! der Himmel war ihm nur das
Spiegelbild der Erde. Alles Gethier, das sich auf Erden regt, Berge, Seen
und Flüsse, Bäume und Blumen, menschliche Gestalten und ihre Werkzeuge
wiederholten sich im Himmel in ewig wechselnden, bunt schillernden Bildern.
So erschien der hcranbrausende Sturm, der die Wipfel der stärksten Bäume
schüttelt, als Wuotans wilde Jagd, die er mit seinen gespenstischen Geselle"
und Hunden abhält, der Flug der Wolken bald als der Schimmel, welchen der
Gott reitet, bald als sein breitkrempiger Hut und sein lang hinwallender grauer
Mantel, die Sonne als sei" einziges Auge: der dem Gewitter vorangehende
Wirbelwind, der alles Bewegliche in die Höhe reißt wie ein ungeheurer Eber,


ein beliebiges und auch sonst beliebtes Motiv, wie z. B. den Kirchenraub unter¬
legte. Für diese Auffassung spricht besonders der Umstand, daß die Sage einige
Male ohne jedes Motiv, also doch sicher in unvollständiger Gestalt erzählt wird.
Von da ist zu eigenmächtiger Erzänzung nur el» Schritt.

Abgesehen von der unbefriedigender Einseitigkeit der ethischen Erklärung
erhebt sich gegen dieselbe noch ein Einwand viel allgemeinerer Art. Wo es sich
um Ueberreste des Glaubens unserer heidnischen Vorältern handelt, dürfen wir
ebenso wie in den Mythologien der anderen indogermanischen Völker immer
erst in letzter Reihe an sittliche Mächte, an rein geistige Gewalten denken, in
erster dagegen an blos natürliche Kräfte, an sinnliche Erscheinungen. Von der
Verehrung der in der sinnlichen Natur wirksamen Kräfte, deren Uebermacht das
hilflose Menschenkind empfindet, geht alle Religion aus! Sonne und Mond,
Wind und Wolken. Donner und Blitz und ihre Wechselwirkungen unter ein¬
ander wie auf die Erde, in den Jahreszeiten zumal, sind die Elemente, aus
denen die Mythologie ihre Gebilde schafft; in ihnen walten die Mächte, an
welche der Naturmensch glaubt. Sobald er zu der Wahrnehmung durchgedrungen
ist, daß von den Erscheinungen des Himmels, deren wechselndes Spiel zuerst
nur seine Phantasie gereizt hatte, der Segen der irdischen Fluren, mithin sein
eigenes Wohlergehen bestimmt wird, entsteht in' ihm das Gefühl der Abhängig¬
keit von höheren Mächten, welches die Wurzel aller Religiosität ist. An die
bange Furcht vor den Schrecken der Natur schließt sich der frohe Dank für ihre
Segnungen: diesem Ausdruck zu geben, jene zu beschwichtigen, ist Zweck des
Cultus aller Naturreligionen. Ihre Feste sind nur dramatische Wiederholungen
der himmlische» Vorgänge.

In einem Himmelsstriche wie der des mittleren Asiens, der Wiege der
europäischen Menschheit, unter welchem die Uebergänge der Jahreszeiten bei
weiten, schroffer und gewaltsamer sind als in unserm kühlen Norte», mußten
jene Erscheinungen auch viel eindrucksvoller sein und der zerstörende wie der
befruchtende Einfluß der himmlischen Kräfte alle Sinne des Menschen gleichsam
gefangen nehmen. Fern aber lag seinem kindlichen Verstände jeder Gedanke
an allgemeine Gesetze und ihre Wirkungen! der Himmel war ihm nur das
Spiegelbild der Erde. Alles Gethier, das sich auf Erden regt, Berge, Seen
und Flüsse, Bäume und Blumen, menschliche Gestalten und ihre Werkzeuge
wiederholten sich im Himmel in ewig wechselnden, bunt schillernden Bildern.
So erschien der hcranbrausende Sturm, der die Wipfel der stärksten Bäume
schüttelt, als Wuotans wilde Jagd, die er mit seinen gespenstischen Geselle»
und Hunden abhält, der Flug der Wolken bald als der Schimmel, welchen der
Gott reitet, bald als sein breitkrempiger Hut und sein lang hinwallender grauer
Mantel, die Sonne als sei» einziges Auge: der dem Gewitter vorangehende
Wirbelwind, der alles Bewegliche in die Höhe reißt wie ein ungeheurer Eber,


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[0362] ein beliebiges und auch sonst beliebtes Motiv, wie z. B. den Kirchenraub unter¬ legte. Für diese Auffassung spricht besonders der Umstand, daß die Sage einige Male ohne jedes Motiv, also doch sicher in unvollständiger Gestalt erzählt wird. Von da ist zu eigenmächtiger Erzänzung nur el» Schritt. Abgesehen von der unbefriedigender Einseitigkeit der ethischen Erklärung erhebt sich gegen dieselbe noch ein Einwand viel allgemeinerer Art. Wo es sich um Ueberreste des Glaubens unserer heidnischen Vorältern handelt, dürfen wir ebenso wie in den Mythologien der anderen indogermanischen Völker immer erst in letzter Reihe an sittliche Mächte, an rein geistige Gewalten denken, in erster dagegen an blos natürliche Kräfte, an sinnliche Erscheinungen. Von der Verehrung der in der sinnlichen Natur wirksamen Kräfte, deren Uebermacht das hilflose Menschenkind empfindet, geht alle Religion aus! Sonne und Mond, Wind und Wolken. Donner und Blitz und ihre Wechselwirkungen unter ein¬ ander wie auf die Erde, in den Jahreszeiten zumal, sind die Elemente, aus denen die Mythologie ihre Gebilde schafft; in ihnen walten die Mächte, an welche der Naturmensch glaubt. Sobald er zu der Wahrnehmung durchgedrungen ist, daß von den Erscheinungen des Himmels, deren wechselndes Spiel zuerst nur seine Phantasie gereizt hatte, der Segen der irdischen Fluren, mithin sein eigenes Wohlergehen bestimmt wird, entsteht in' ihm das Gefühl der Abhängig¬ keit von höheren Mächten, welches die Wurzel aller Religiosität ist. An die bange Furcht vor den Schrecken der Natur schließt sich der frohe Dank für ihre Segnungen: diesem Ausdruck zu geben, jene zu beschwichtigen, ist Zweck des Cultus aller Naturreligionen. Ihre Feste sind nur dramatische Wiederholungen der himmlische» Vorgänge. In einem Himmelsstriche wie der des mittleren Asiens, der Wiege der europäischen Menschheit, unter welchem die Uebergänge der Jahreszeiten bei weiten, schroffer und gewaltsamer sind als in unserm kühlen Norte», mußten jene Erscheinungen auch viel eindrucksvoller sein und der zerstörende wie der befruchtende Einfluß der himmlischen Kräfte alle Sinne des Menschen gleichsam gefangen nehmen. Fern aber lag seinem kindlichen Verstände jeder Gedanke an allgemeine Gesetze und ihre Wirkungen! der Himmel war ihm nur das Spiegelbild der Erde. Alles Gethier, das sich auf Erden regt, Berge, Seen und Flüsse, Bäume und Blumen, menschliche Gestalten und ihre Werkzeuge wiederholten sich im Himmel in ewig wechselnden, bunt schillernden Bildern. So erschien der hcranbrausende Sturm, der die Wipfel der stärksten Bäume schüttelt, als Wuotans wilde Jagd, die er mit seinen gespenstischen Geselle» und Hunden abhält, der Flug der Wolken bald als der Schimmel, welchen der Gott reitet, bald als sein breitkrempiger Hut und sein lang hinwallender grauer Mantel, die Sonne als sei» einziges Auge: der dem Gewitter vorangehende Wirbelwind, der alles Bewegliche in die Höhe reißt wie ein ungeheurer Eber,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/362>, abgerufen am 02.10.2024.