Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

eine einzelne Sage solcher Art vermag sie nicht alle zugleich zu erklären. Ganz
abgesehen davon, daß viele Züge unerklärt blieben, ist es denkbar, daß eine
bloße Mönchsfabel durch mehr denn achthundert Jahre lebendig im Volke wur¬
zelte und nicht blos an sehr verschiedenen Orten der deutschen Zunge sich fort¬
pflanzte, sondern auch in Böhmen und Polen, in Dänemark und England, bei
aller Mannigfaltigkeit der Ausführung doch nur von einer Anschauung be¬
herrscht?

Die weite Verbreitung unserer Sage, auf welche ich soeben hinwies, bei
Germanen wie bei Slaven deutet für ihren Ursprung auf jene graue Vorzeit
zurück, da vor aller Geschichte Deutsche und Slaven, Griechen und Römer,
Perser und Inder und alle die übrigen indogermanischen Völker, die Kinder
einer Mutter, tief drinnen in Asien als friedliche Hirten bei einander saßen,
dieselbe Sprache redeten und zu denselben Göttern beteten. Doch wie, wird
man uns einwenden, wer darf an jene Urzeiten denken, da die Mäusethürme
alle in geschichtlich wohlbekannte Umgebungen, in christliche Zustände gehören
und -- mit Ausnahme Popiels höchstens -- an Personen mit bekanntem Namen
sich knüpfen? Grade der Umstand, daß so ganz verschiedene Personen Träger
der Sage sind, beweist, daß keine derselben der ursprüngliche Träger ist. Aus
zahllosen Beispielen erkennen wir, wie Geschichten der Götter auf göttliche
Helden übergingen, von denen einer durch den andern verdrängt wurde und wie
in christlicher Zeit je nach ihrem Charakter bald Heilige, bald Teufel, bald auch
einfache Hirten und Bauern die Stelle der Heidengötter einnehmen. So sind,
um nur eines von jenen Beispielen anzuführen, die in den Berg entrückten
kaiserlichen Helden. Karl der Große, Friedrich Barbarossa u. a.. an die Stelle
Wuotans selbst getreten, auf den die Naben als seine heiligen Vögel hinweisen.
Mit den Völkern, mit den Zeiten verjüngen sich die aus der Urheimath mit¬
gebrachten Göttersagen: losgerissen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhange
werden sie in immer neues Ecdreich gesetzt und treiben neue Sprossen, während
alte Zweige und Blätter verdorren und abfallen, aber der Stamm bleibt un¬
verändert und, weist für den Kundigen in die verdunkelte heidnische Kindheit des
Volkes zurück.

Wenden wir diese allgemeinen Bemerkungen auf unseren Mäusethurm an,
so liegt es am nächsten, nach der mythischen Bedeutung der Mäuse zu fragen,
die ja offenbar das wesentlichste, überall wiederkehrende Element des ganzen
Sagenkreises sind. Die Thiere spielten bei unseren Vorältern, wie in allen
Mythologien eine sehr hervorragende Rolle, von der nur die Malchen und ein¬
zelne Züge des Aberglaubens noch spärliches Zeugniß ablegen. Mit den Thieren
geht der natürliche Mensch fast wie mit seines Gleichen um, wie es noch heut¬
zutage die Kinder thun, er empfindet die ungeheure Kluft zwischen der mensch¬
lichen Vernunft und dem thierischen Jnstincte wenig, weil auf dieser Stufe sich


eine einzelne Sage solcher Art vermag sie nicht alle zugleich zu erklären. Ganz
abgesehen davon, daß viele Züge unerklärt blieben, ist es denkbar, daß eine
bloße Mönchsfabel durch mehr denn achthundert Jahre lebendig im Volke wur¬
zelte und nicht blos an sehr verschiedenen Orten der deutschen Zunge sich fort¬
pflanzte, sondern auch in Böhmen und Polen, in Dänemark und England, bei
aller Mannigfaltigkeit der Ausführung doch nur von einer Anschauung be¬
herrscht?

Die weite Verbreitung unserer Sage, auf welche ich soeben hinwies, bei
Germanen wie bei Slaven deutet für ihren Ursprung auf jene graue Vorzeit
zurück, da vor aller Geschichte Deutsche und Slaven, Griechen und Römer,
Perser und Inder und alle die übrigen indogermanischen Völker, die Kinder
einer Mutter, tief drinnen in Asien als friedliche Hirten bei einander saßen,
dieselbe Sprache redeten und zu denselben Göttern beteten. Doch wie, wird
man uns einwenden, wer darf an jene Urzeiten denken, da die Mäusethürme
alle in geschichtlich wohlbekannte Umgebungen, in christliche Zustände gehören
und — mit Ausnahme Popiels höchstens — an Personen mit bekanntem Namen
sich knüpfen? Grade der Umstand, daß so ganz verschiedene Personen Träger
der Sage sind, beweist, daß keine derselben der ursprüngliche Träger ist. Aus
zahllosen Beispielen erkennen wir, wie Geschichten der Götter auf göttliche
Helden übergingen, von denen einer durch den andern verdrängt wurde und wie
in christlicher Zeit je nach ihrem Charakter bald Heilige, bald Teufel, bald auch
einfache Hirten und Bauern die Stelle der Heidengötter einnehmen. So sind,
um nur eines von jenen Beispielen anzuführen, die in den Berg entrückten
kaiserlichen Helden. Karl der Große, Friedrich Barbarossa u. a.. an die Stelle
Wuotans selbst getreten, auf den die Naben als seine heiligen Vögel hinweisen.
Mit den Völkern, mit den Zeiten verjüngen sich die aus der Urheimath mit¬
gebrachten Göttersagen: losgerissen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhange
werden sie in immer neues Ecdreich gesetzt und treiben neue Sprossen, während
alte Zweige und Blätter verdorren und abfallen, aber der Stamm bleibt un¬
verändert und, weist für den Kundigen in die verdunkelte heidnische Kindheit des
Volkes zurück.

Wenden wir diese allgemeinen Bemerkungen auf unseren Mäusethurm an,
so liegt es am nächsten, nach der mythischen Bedeutung der Mäuse zu fragen,
die ja offenbar das wesentlichste, überall wiederkehrende Element des ganzen
Sagenkreises sind. Die Thiere spielten bei unseren Vorältern, wie in allen
Mythologien eine sehr hervorragende Rolle, von der nur die Malchen und ein¬
zelne Züge des Aberglaubens noch spärliches Zeugniß ablegen. Mit den Thieren
geht der natürliche Mensch fast wie mit seines Gleichen um, wie es noch heut¬
zutage die Kinder thun, er empfindet die ungeheure Kluft zwischen der mensch¬
lichen Vernunft und dem thierischen Jnstincte wenig, weil auf dieser Stufe sich


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0359" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190518"/>
          <p xml:id="ID_1206" prev="#ID_1205"> eine einzelne Sage solcher Art vermag sie nicht alle zugleich zu erklären. Ganz<lb/>
abgesehen davon, daß viele Züge unerklärt blieben, ist es denkbar, daß eine<lb/>
bloße Mönchsfabel durch mehr denn achthundert Jahre lebendig im Volke wur¬<lb/>
zelte und nicht blos an sehr verschiedenen Orten der deutschen Zunge sich fort¬<lb/>
pflanzte, sondern auch in Böhmen und Polen, in Dänemark und England, bei<lb/>
aller Mannigfaltigkeit der Ausführung doch nur von einer Anschauung be¬<lb/>
herrscht?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1207"> Die weite Verbreitung unserer Sage, auf welche ich soeben hinwies, bei<lb/>
Germanen wie bei Slaven deutet für ihren Ursprung auf jene graue Vorzeit<lb/>
zurück, da vor aller Geschichte Deutsche und Slaven, Griechen und Römer,<lb/>
Perser und Inder und alle die übrigen indogermanischen Völker, die Kinder<lb/>
einer Mutter, tief drinnen in Asien als friedliche Hirten bei einander saßen,<lb/>
dieselbe Sprache redeten und zu denselben Göttern beteten. Doch wie, wird<lb/>
man uns einwenden, wer darf an jene Urzeiten denken, da die Mäusethürme<lb/>
alle in geschichtlich wohlbekannte Umgebungen, in christliche Zustände gehören<lb/>
und &#x2014; mit Ausnahme Popiels höchstens &#x2014; an Personen mit bekanntem Namen<lb/>
sich knüpfen? Grade der Umstand, daß so ganz verschiedene Personen Träger<lb/>
der Sage sind, beweist, daß keine derselben der ursprüngliche Träger ist. Aus<lb/>
zahllosen Beispielen erkennen wir, wie Geschichten der Götter auf göttliche<lb/>
Helden übergingen, von denen einer durch den andern verdrängt wurde und wie<lb/>
in christlicher Zeit je nach ihrem Charakter bald Heilige, bald Teufel, bald auch<lb/>
einfache Hirten und Bauern die Stelle der Heidengötter einnehmen. So sind,<lb/>
um nur eines von jenen Beispielen anzuführen, die in den Berg entrückten<lb/>
kaiserlichen Helden. Karl der Große, Friedrich Barbarossa u. a.. an die Stelle<lb/>
Wuotans selbst getreten, auf den die Naben als seine heiligen Vögel hinweisen.<lb/>
Mit den Völkern, mit den Zeiten verjüngen sich die aus der Urheimath mit¬<lb/>
gebrachten Göttersagen: losgerissen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhange<lb/>
werden sie in immer neues Ecdreich gesetzt und treiben neue Sprossen, während<lb/>
alte Zweige und Blätter verdorren und abfallen, aber der Stamm bleibt un¬<lb/>
verändert und, weist für den Kundigen in die verdunkelte heidnische Kindheit des<lb/>
Volkes zurück.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1208" next="#ID_1209"> Wenden wir diese allgemeinen Bemerkungen auf unseren Mäusethurm an,<lb/>
so liegt es am nächsten, nach der mythischen Bedeutung der Mäuse zu fragen,<lb/>
die ja offenbar das wesentlichste, überall wiederkehrende Element des ganzen<lb/>
Sagenkreises sind. Die Thiere spielten bei unseren Vorältern, wie in allen<lb/>
Mythologien eine sehr hervorragende Rolle, von der nur die Malchen und ein¬<lb/>
zelne Züge des Aberglaubens noch spärliches Zeugniß ablegen. Mit den Thieren<lb/>
geht der natürliche Mensch fast wie mit seines Gleichen um, wie es noch heut¬<lb/>
zutage die Kinder thun, er empfindet die ungeheure Kluft zwischen der mensch¬<lb/>
lichen Vernunft und dem thierischen Jnstincte wenig, weil auf dieser Stufe sich</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0359] eine einzelne Sage solcher Art vermag sie nicht alle zugleich zu erklären. Ganz abgesehen davon, daß viele Züge unerklärt blieben, ist es denkbar, daß eine bloße Mönchsfabel durch mehr denn achthundert Jahre lebendig im Volke wur¬ zelte und nicht blos an sehr verschiedenen Orten der deutschen Zunge sich fort¬ pflanzte, sondern auch in Böhmen und Polen, in Dänemark und England, bei aller Mannigfaltigkeit der Ausführung doch nur von einer Anschauung be¬ herrscht? Die weite Verbreitung unserer Sage, auf welche ich soeben hinwies, bei Germanen wie bei Slaven deutet für ihren Ursprung auf jene graue Vorzeit zurück, da vor aller Geschichte Deutsche und Slaven, Griechen und Römer, Perser und Inder und alle die übrigen indogermanischen Völker, die Kinder einer Mutter, tief drinnen in Asien als friedliche Hirten bei einander saßen, dieselbe Sprache redeten und zu denselben Göttern beteten. Doch wie, wird man uns einwenden, wer darf an jene Urzeiten denken, da die Mäusethürme alle in geschichtlich wohlbekannte Umgebungen, in christliche Zustände gehören und — mit Ausnahme Popiels höchstens — an Personen mit bekanntem Namen sich knüpfen? Grade der Umstand, daß so ganz verschiedene Personen Träger der Sage sind, beweist, daß keine derselben der ursprüngliche Träger ist. Aus zahllosen Beispielen erkennen wir, wie Geschichten der Götter auf göttliche Helden übergingen, von denen einer durch den andern verdrängt wurde und wie in christlicher Zeit je nach ihrem Charakter bald Heilige, bald Teufel, bald auch einfache Hirten und Bauern die Stelle der Heidengötter einnehmen. So sind, um nur eines von jenen Beispielen anzuführen, die in den Berg entrückten kaiserlichen Helden. Karl der Große, Friedrich Barbarossa u. a.. an die Stelle Wuotans selbst getreten, auf den die Naben als seine heiligen Vögel hinweisen. Mit den Völkern, mit den Zeiten verjüngen sich die aus der Urheimath mit¬ gebrachten Göttersagen: losgerissen aus ihrem ursprünglichen Zusammenhange werden sie in immer neues Ecdreich gesetzt und treiben neue Sprossen, während alte Zweige und Blätter verdorren und abfallen, aber der Stamm bleibt un¬ verändert und, weist für den Kundigen in die verdunkelte heidnische Kindheit des Volkes zurück. Wenden wir diese allgemeinen Bemerkungen auf unseren Mäusethurm an, so liegt es am nächsten, nach der mythischen Bedeutung der Mäuse zu fragen, die ja offenbar das wesentlichste, überall wiederkehrende Element des ganzen Sagenkreises sind. Die Thiere spielten bei unseren Vorältern, wie in allen Mythologien eine sehr hervorragende Rolle, von der nur die Malchen und ein¬ zelne Züge des Aberglaubens noch spärliches Zeugniß ablegen. Mit den Thieren geht der natürliche Mensch fast wie mit seines Gleichen um, wie es noch heut¬ zutage die Kinder thun, er empfindet die ungeheure Kluft zwischen der mensch¬ lichen Vernunft und dem thierischen Jnstincte wenig, weil auf dieser Stufe sich

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/359
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/359>, abgerufen am 02.10.2024.