Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Beobachter eine bewegliche Jeremiade über beti Abfall, der eine Bevölkerungs-
classe nach der andern -- mit Ausnahme natürlich des "Volks" -- ergriffen
habe. In denselben Tagen wurde in der Stadtgemeinde Stuttgart eine Wahl-
schlacht geschlagen, in der zum ersten Mal die deutsche Partei mit ihren Gegnern,
der Volkspartei und den Konservativen. sich zu messen hatte. Die letzteren
trugen zwar mit ihrem Anhang von Beamten und Hofhandwerkern den Sieg
davon, aber die deutsche Partei hatte nahezu doppelt so viele Stimmen auf
ihre Kandidaten vereinigt, als die Volkspartei. Darüber wunderte sich freilich
niemand, der wußte, wie winzig in Stuttgart der Anhang der Faiseure süd¬
deutscher Volksmeinung ist, und welche Anziehungskraft daselbst die wöchentlichen
Abende der deutschen Partei ausüben. Aber es zeigte sich bald, daß dieses
Verhältnis, nicht in der Hauptstadt vereinzelt stand. Auch auf dem Land mehrten
sich die Zechen des Abfalls von den Volksvereinen. Man wagte es endlich,
vom Terrorismus der Partei sich zu emancipnen. Hier wurden nur mit Mühe
Spaltungen in den Vereinen vermieden, dort löste sich ein Verein auf. ein
andres Mal schwenkte gleich ein ganzer Volksverein z" der deutschen Partei
herüber. Begünstigt von dieser Stimmung hielt die deutsche Partei am 20. Januar
ihre xrste Volksversammlung in Ulm, die, trotzdem das; das Terrain nicht das
günstigste schien und die Theilnehmer zur großen Theil von dem nahen katho¬
lischen Oberschwaben kamen. vollständigen Erfolg hatte. Die deutsche Partei
konnte hier die Erfahrung machen, daß sie im Volk ungleich mehr Anhänger
zählte, als sie selbst gehofft hatte, und es war leicht zu bemerken, wie die
Oeffentlichkeit einer großen Versammlung den Muth verlieh, offen sich zu Ueber-
-cugungen zu bekennen, die längst an den Ereignissen gereift nur durch den
Druck des Parteifanatismns zurückgehalten waren. Sucher werden die Erfahrun¬
gen dieselben sein, wenn, wie beabsichtigt ist, solche Versammlungen demnächst
in anderen Landestheilen wi.derholl werden^ '

Man hat es zuweilen mißverstanden, daß die deutsche Partei neben ihrem
ersten und eigentlichen Zweck auch die Agitation für eine innere Landesangelegen-
heit, nämlich für die Wiederherstellung des Gesetzes Vom 1. Juli 1849 auf ihre
Fahne geschrieben hat. Es war damals durch dieses Gesetz an die Stelle der
verfassungsmäßigen Ständeversammlung eine conslituirende aus freien Wahlen
hervorgehende Versammlung zum Zweck der Revision der Verfassung einberufen;
als aber nach dreimaliger Auflösung keine Verständigung erzielt werden konnte,
hob die Regierung einseitig das Gesetz auf. stellte die alten Ständekammern
wieder her, und seitdem wurde viel von Verfassungsrevision gesprochen, aber
feine Hand dazu anührt, Nun war es natürlich, daß mit der Beseitigung des
Bundestags die Frage der Verfassungsrevision wiede" lebhaft in Fluß kam.
und da es voraussichtlich unmöglich war. mit den bestehenden Factoren der
Gesetzgebung zumal mit der Kammer der Standesherren, ein befriedigendes


Beobachter eine bewegliche Jeremiade über beti Abfall, der eine Bevölkerungs-
classe nach der andern — mit Ausnahme natürlich des „Volks" — ergriffen
habe. In denselben Tagen wurde in der Stadtgemeinde Stuttgart eine Wahl-
schlacht geschlagen, in der zum ersten Mal die deutsche Partei mit ihren Gegnern,
der Volkspartei und den Konservativen. sich zu messen hatte. Die letzteren
trugen zwar mit ihrem Anhang von Beamten und Hofhandwerkern den Sieg
davon, aber die deutsche Partei hatte nahezu doppelt so viele Stimmen auf
ihre Kandidaten vereinigt, als die Volkspartei. Darüber wunderte sich freilich
niemand, der wußte, wie winzig in Stuttgart der Anhang der Faiseure süd¬
deutscher Volksmeinung ist, und welche Anziehungskraft daselbst die wöchentlichen
Abende der deutschen Partei ausüben. Aber es zeigte sich bald, daß dieses
Verhältnis, nicht in der Hauptstadt vereinzelt stand. Auch auf dem Land mehrten
sich die Zechen des Abfalls von den Volksvereinen. Man wagte es endlich,
vom Terrorismus der Partei sich zu emancipnen. Hier wurden nur mit Mühe
Spaltungen in den Vereinen vermieden, dort löste sich ein Verein auf. ein
andres Mal schwenkte gleich ein ganzer Volksverein z» der deutschen Partei
herüber. Begünstigt von dieser Stimmung hielt die deutsche Partei am 20. Januar
ihre xrste Volksversammlung in Ulm, die, trotzdem das; das Terrain nicht das
günstigste schien und die Theilnehmer zur großen Theil von dem nahen katho¬
lischen Oberschwaben kamen. vollständigen Erfolg hatte. Die deutsche Partei
konnte hier die Erfahrung machen, daß sie im Volk ungleich mehr Anhänger
zählte, als sie selbst gehofft hatte, und es war leicht zu bemerken, wie die
Oeffentlichkeit einer großen Versammlung den Muth verlieh, offen sich zu Ueber-
-cugungen zu bekennen, die längst an den Ereignissen gereift nur durch den
Druck des Parteifanatismns zurückgehalten waren. Sucher werden die Erfahrun¬
gen dieselben sein, wenn, wie beabsichtigt ist, solche Versammlungen demnächst
in anderen Landestheilen wi.derholl werden^ '

Man hat es zuweilen mißverstanden, daß die deutsche Partei neben ihrem
ersten und eigentlichen Zweck auch die Agitation für eine innere Landesangelegen-
heit, nämlich für die Wiederherstellung des Gesetzes Vom 1. Juli 1849 auf ihre
Fahne geschrieben hat. Es war damals durch dieses Gesetz an die Stelle der
verfassungsmäßigen Ständeversammlung eine conslituirende aus freien Wahlen
hervorgehende Versammlung zum Zweck der Revision der Verfassung einberufen;
als aber nach dreimaliger Auflösung keine Verständigung erzielt werden konnte,
hob die Regierung einseitig das Gesetz auf. stellte die alten Ständekammern
wieder her, und seitdem wurde viel von Verfassungsrevision gesprochen, aber
feine Hand dazu anührt, Nun war es natürlich, daß mit der Beseitigung des
Bundestags die Frage der Verfassungsrevision wiede» lebhaft in Fluß kam.
und da es voraussichtlich unmöglich war. mit den bestehenden Factoren der
Gesetzgebung zumal mit der Kammer der Standesherren, ein befriedigendes


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0324" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190483"/>
          <p xml:id="ID_1103" prev="#ID_1102"> Beobachter eine bewegliche Jeremiade über beti Abfall, der eine Bevölkerungs-<lb/>
classe nach der andern &#x2014; mit Ausnahme natürlich des &#x201E;Volks" &#x2014; ergriffen<lb/>
habe. In denselben Tagen wurde in der Stadtgemeinde Stuttgart eine Wahl-<lb/>
schlacht geschlagen, in der zum ersten Mal die deutsche Partei mit ihren Gegnern,<lb/>
der Volkspartei und den Konservativen. sich zu messen hatte. Die letzteren<lb/>
trugen zwar mit ihrem Anhang von Beamten und Hofhandwerkern den Sieg<lb/>
davon, aber die deutsche Partei hatte nahezu doppelt so viele Stimmen auf<lb/>
ihre Kandidaten vereinigt, als die Volkspartei. Darüber wunderte sich freilich<lb/>
niemand, der wußte, wie winzig in Stuttgart der Anhang der Faiseure süd¬<lb/>
deutscher Volksmeinung ist, und welche Anziehungskraft daselbst die wöchentlichen<lb/>
Abende der deutschen Partei ausüben. Aber es zeigte sich bald, daß dieses<lb/>
Verhältnis, nicht in der Hauptstadt vereinzelt stand. Auch auf dem Land mehrten<lb/>
sich die Zechen des Abfalls von den Volksvereinen. Man wagte es endlich,<lb/>
vom Terrorismus der Partei sich zu emancipnen. Hier wurden nur mit Mühe<lb/>
Spaltungen in den Vereinen vermieden, dort löste sich ein Verein auf. ein<lb/>
andres Mal schwenkte gleich ein ganzer Volksverein z» der deutschen Partei<lb/>
herüber. Begünstigt von dieser Stimmung hielt die deutsche Partei am 20. Januar<lb/>
ihre xrste Volksversammlung in Ulm, die, trotzdem das; das Terrain nicht das<lb/>
günstigste schien und die Theilnehmer zur großen Theil von dem nahen katho¬<lb/>
lischen Oberschwaben kamen. vollständigen Erfolg hatte. Die deutsche Partei<lb/>
konnte hier die Erfahrung machen, daß sie im Volk ungleich mehr Anhänger<lb/>
zählte, als sie selbst gehofft hatte, und es war leicht zu bemerken, wie die<lb/>
Oeffentlichkeit einer großen Versammlung den Muth verlieh, offen sich zu Ueber-<lb/>
-cugungen zu bekennen, die längst an den Ereignissen gereift nur durch den<lb/>
Druck des Parteifanatismns zurückgehalten waren. Sucher werden die Erfahrun¬<lb/>
gen dieselben sein, wenn, wie beabsichtigt ist, solche Versammlungen demnächst<lb/>
in anderen Landestheilen wi.derholl werden^ '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1104" next="#ID_1105"> Man hat es zuweilen mißverstanden, daß die deutsche Partei neben ihrem<lb/>
ersten und eigentlichen Zweck auch die Agitation für eine innere Landesangelegen-<lb/>
heit, nämlich für die Wiederherstellung des Gesetzes Vom 1. Juli 1849 auf ihre<lb/>
Fahne geschrieben hat. Es war damals durch dieses Gesetz an die Stelle der<lb/>
verfassungsmäßigen Ständeversammlung eine conslituirende aus freien Wahlen<lb/>
hervorgehende Versammlung zum Zweck der Revision der Verfassung einberufen;<lb/>
als aber nach dreimaliger Auflösung keine Verständigung erzielt werden konnte,<lb/>
hob die Regierung einseitig das Gesetz auf. stellte die alten Ständekammern<lb/>
wieder her, und seitdem wurde viel von Verfassungsrevision gesprochen, aber<lb/>
feine Hand dazu anührt, Nun war es natürlich, daß mit der Beseitigung des<lb/>
Bundestags die Frage der Verfassungsrevision wiede» lebhaft in Fluß kam.<lb/>
und da es voraussichtlich unmöglich war. mit den bestehenden Factoren der<lb/>
Gesetzgebung  zumal mit der Kammer der Standesherren, ein befriedigendes</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0324] Beobachter eine bewegliche Jeremiade über beti Abfall, der eine Bevölkerungs- classe nach der andern — mit Ausnahme natürlich des „Volks" — ergriffen habe. In denselben Tagen wurde in der Stadtgemeinde Stuttgart eine Wahl- schlacht geschlagen, in der zum ersten Mal die deutsche Partei mit ihren Gegnern, der Volkspartei und den Konservativen. sich zu messen hatte. Die letzteren trugen zwar mit ihrem Anhang von Beamten und Hofhandwerkern den Sieg davon, aber die deutsche Partei hatte nahezu doppelt so viele Stimmen auf ihre Kandidaten vereinigt, als die Volkspartei. Darüber wunderte sich freilich niemand, der wußte, wie winzig in Stuttgart der Anhang der Faiseure süd¬ deutscher Volksmeinung ist, und welche Anziehungskraft daselbst die wöchentlichen Abende der deutschen Partei ausüben. Aber es zeigte sich bald, daß dieses Verhältnis, nicht in der Hauptstadt vereinzelt stand. Auch auf dem Land mehrten sich die Zechen des Abfalls von den Volksvereinen. Man wagte es endlich, vom Terrorismus der Partei sich zu emancipnen. Hier wurden nur mit Mühe Spaltungen in den Vereinen vermieden, dort löste sich ein Verein auf. ein andres Mal schwenkte gleich ein ganzer Volksverein z» der deutschen Partei herüber. Begünstigt von dieser Stimmung hielt die deutsche Partei am 20. Januar ihre xrste Volksversammlung in Ulm, die, trotzdem das; das Terrain nicht das günstigste schien und die Theilnehmer zur großen Theil von dem nahen katho¬ lischen Oberschwaben kamen. vollständigen Erfolg hatte. Die deutsche Partei konnte hier die Erfahrung machen, daß sie im Volk ungleich mehr Anhänger zählte, als sie selbst gehofft hatte, und es war leicht zu bemerken, wie die Oeffentlichkeit einer großen Versammlung den Muth verlieh, offen sich zu Ueber- -cugungen zu bekennen, die längst an den Ereignissen gereift nur durch den Druck des Parteifanatismns zurückgehalten waren. Sucher werden die Erfahrun¬ gen dieselben sein, wenn, wie beabsichtigt ist, solche Versammlungen demnächst in anderen Landestheilen wi.derholl werden^ ' Man hat es zuweilen mißverstanden, daß die deutsche Partei neben ihrem ersten und eigentlichen Zweck auch die Agitation für eine innere Landesangelegen- heit, nämlich für die Wiederherstellung des Gesetzes Vom 1. Juli 1849 auf ihre Fahne geschrieben hat. Es war damals durch dieses Gesetz an die Stelle der verfassungsmäßigen Ständeversammlung eine conslituirende aus freien Wahlen hervorgehende Versammlung zum Zweck der Revision der Verfassung einberufen; als aber nach dreimaliger Auflösung keine Verständigung erzielt werden konnte, hob die Regierung einseitig das Gesetz auf. stellte die alten Ständekammern wieder her, und seitdem wurde viel von Verfassungsrevision gesprochen, aber feine Hand dazu anührt, Nun war es natürlich, daß mit der Beseitigung des Bundestags die Frage der Verfassungsrevision wiede» lebhaft in Fluß kam. und da es voraussichtlich unmöglich war. mit den bestehenden Factoren der Gesetzgebung zumal mit der Kammer der Standesherren, ein befriedigendes

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/324
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/324>, abgerufen am 22.12.2024.