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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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volle Stunde gekommen zu sein. An beide ergeht die Forderung durchgreifen¬
der Säkularisation; die nächsten Jahrzehende müssen entscheiden, welche dieser
mittelalterlichen Mächte zuerst den Entschluß findet, ihr Ewiges zu retten indem
sie ihr Zeitliches aufgiebt. Uns scheint, der Sultan müßte als Nachfolger der
Propheten und Kalifen kraft der Unfehlbarkeit seiner traditionellen Würde die
protestantische That vollziehen, den Koran in seiner Reinheit wiederherzustellen,
indem er die politische Autorität desselben tilgte. Dieses Radikalmittel würde
der Nation ihren Glaubenskanon lassen, aber zugleich die naturgemäße Läute¬
rung desselben anbahnen, und was die Hauptsache ist! es nähme dem Volke den
religiösen Argwohn gegen die Reform. Gewagt wäre das Spiel freilich. Es
könnte unter Umständen Religionskriege blutigster Art innerhalb des Islam
selbst, Krieg der asiatischen Bevölkerung der Türkei gegen die europäische, Auf¬
lösung und Zerfallen des Reiches durch Secessionen im großen Maßstabe zur
Folge haben. Es gehörte eine Persönlichkeit dazu von imponirender Bedeutung,
von wahrhaft großem Geist, aber auch von starkem Arm, ein Reformator auf
den Thron und nöthigenfalls mit dem Schwert. Dazu sind die Aussichten
gering, ja gleich Null. Dennoch ist das keine leere Hypothese. Kann vom
Herrscher vorläufig nichts erwartet werden, so ist nicht unmögluh, daß die reli¬
giöse Krisis im Volke zu einer reformatorischen That drängte. -- Wir haben
darauf schließlich noch mit einigen Worten hinzuweisen. Die Kreuzzugszeit
des Islam, wo die Kampflust aus dem Fanatismus Nahrung zog, ist
längst vorüber. Religiöser Eifer im Sinne der großen Erobernngszcit ist
heute nur noch bei einzelnen Stämmen entfernter Reiche der asiatischen Türkei
zu finden, und auch dort regt er sich nicht ohne besondere Veranlassung, die
Türken in Konstantinopel sind weit eher tolerant zu nennen, als fanatisch. Wer
nicht etwa die jetzt beliebten Vergnügungsfahrten nach Konstantinopel mitmacht,
welche von Lohndiener" der Hotels und türkischen Beamten zu den schamlosesten
Prellereien der unwissende" Reisenden benutzt zu werden scheinen -- und wer
sich sonst anständig beträgt, kann in Konstantinopel jede Moschee mit Ausnahme
der einzigen von Ejub, in welcher sich die Fahne des Propheten und das Grab
seines Fahnenträgers befinden soll, zu jeder Tageszeit, selbst während des Got¬
tesdienstes unbelästigt und auch ohne Steuer besuchen. Ein wahres Curiosum
von Toleranz ist es doch, wenn Abdul Medschid sichs gefallen ließ, den Hosen¬
bandorden anzulegen, der, was dem Sultan natürlich erlassen wurde, eigentlich
den Schwur verlangt, gegen die Ungläubigen zu Felde ziehen zu wollen. Daß
er sich bei der Gelegenheit weigerte, sein Schwert, wie es das Ceremoniell vor¬
schreibt, auf einen Augenblick abzulegen, ist darauf zurückzuführen, daß dasselbe
für ihn die Bedeutung der Krone hat. wie die Schwertumgürtung die der Krö¬
nung, -- und wenn er damals äußerte: "er sei Osmane, und erlange er die
^dre, die man ihm erweisen wolle, nur dadurch, daß er dies vergäße, dann


volle Stunde gekommen zu sein. An beide ergeht die Forderung durchgreifen¬
der Säkularisation; die nächsten Jahrzehende müssen entscheiden, welche dieser
mittelalterlichen Mächte zuerst den Entschluß findet, ihr Ewiges zu retten indem
sie ihr Zeitliches aufgiebt. Uns scheint, der Sultan müßte als Nachfolger der
Propheten und Kalifen kraft der Unfehlbarkeit seiner traditionellen Würde die
protestantische That vollziehen, den Koran in seiner Reinheit wiederherzustellen,
indem er die politische Autorität desselben tilgte. Dieses Radikalmittel würde
der Nation ihren Glaubenskanon lassen, aber zugleich die naturgemäße Läute¬
rung desselben anbahnen, und was die Hauptsache ist! es nähme dem Volke den
religiösen Argwohn gegen die Reform. Gewagt wäre das Spiel freilich. Es
könnte unter Umständen Religionskriege blutigster Art innerhalb des Islam
selbst, Krieg der asiatischen Bevölkerung der Türkei gegen die europäische, Auf¬
lösung und Zerfallen des Reiches durch Secessionen im großen Maßstabe zur
Folge haben. Es gehörte eine Persönlichkeit dazu von imponirender Bedeutung,
von wahrhaft großem Geist, aber auch von starkem Arm, ein Reformator auf
den Thron und nöthigenfalls mit dem Schwert. Dazu sind die Aussichten
gering, ja gleich Null. Dennoch ist das keine leere Hypothese. Kann vom
Herrscher vorläufig nichts erwartet werden, so ist nicht unmögluh, daß die reli¬
giöse Krisis im Volke zu einer reformatorischen That drängte. — Wir haben
darauf schließlich noch mit einigen Worten hinzuweisen. Die Kreuzzugszeit
des Islam, wo die Kampflust aus dem Fanatismus Nahrung zog, ist
längst vorüber. Religiöser Eifer im Sinne der großen Erobernngszcit ist
heute nur noch bei einzelnen Stämmen entfernter Reiche der asiatischen Türkei
zu finden, und auch dort regt er sich nicht ohne besondere Veranlassung, die
Türken in Konstantinopel sind weit eher tolerant zu nennen, als fanatisch. Wer
nicht etwa die jetzt beliebten Vergnügungsfahrten nach Konstantinopel mitmacht,
welche von Lohndiener» der Hotels und türkischen Beamten zu den schamlosesten
Prellereien der unwissende» Reisenden benutzt zu werden scheinen — und wer
sich sonst anständig beträgt, kann in Konstantinopel jede Moschee mit Ausnahme
der einzigen von Ejub, in welcher sich die Fahne des Propheten und das Grab
seines Fahnenträgers befinden soll, zu jeder Tageszeit, selbst während des Got¬
tesdienstes unbelästigt und auch ohne Steuer besuchen. Ein wahres Curiosum
von Toleranz ist es doch, wenn Abdul Medschid sichs gefallen ließ, den Hosen¬
bandorden anzulegen, der, was dem Sultan natürlich erlassen wurde, eigentlich
den Schwur verlangt, gegen die Ungläubigen zu Felde ziehen zu wollen. Daß
er sich bei der Gelegenheit weigerte, sein Schwert, wie es das Ceremoniell vor¬
schreibt, auf einen Augenblick abzulegen, ist darauf zurückzuführen, daß dasselbe
für ihn die Bedeutung der Krone hat. wie die Schwertumgürtung die der Krö¬
nung, — und wenn er damals äußerte: „er sei Osmane, und erlange er die
^dre, die man ihm erweisen wolle, nur dadurch, daß er dies vergäße, dann


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[0313] volle Stunde gekommen zu sein. An beide ergeht die Forderung durchgreifen¬ der Säkularisation; die nächsten Jahrzehende müssen entscheiden, welche dieser mittelalterlichen Mächte zuerst den Entschluß findet, ihr Ewiges zu retten indem sie ihr Zeitliches aufgiebt. Uns scheint, der Sultan müßte als Nachfolger der Propheten und Kalifen kraft der Unfehlbarkeit seiner traditionellen Würde die protestantische That vollziehen, den Koran in seiner Reinheit wiederherzustellen, indem er die politische Autorität desselben tilgte. Dieses Radikalmittel würde der Nation ihren Glaubenskanon lassen, aber zugleich die naturgemäße Läute¬ rung desselben anbahnen, und was die Hauptsache ist! es nähme dem Volke den religiösen Argwohn gegen die Reform. Gewagt wäre das Spiel freilich. Es könnte unter Umständen Religionskriege blutigster Art innerhalb des Islam selbst, Krieg der asiatischen Bevölkerung der Türkei gegen die europäische, Auf¬ lösung und Zerfallen des Reiches durch Secessionen im großen Maßstabe zur Folge haben. Es gehörte eine Persönlichkeit dazu von imponirender Bedeutung, von wahrhaft großem Geist, aber auch von starkem Arm, ein Reformator auf den Thron und nöthigenfalls mit dem Schwert. Dazu sind die Aussichten gering, ja gleich Null. Dennoch ist das keine leere Hypothese. Kann vom Herrscher vorläufig nichts erwartet werden, so ist nicht unmögluh, daß die reli¬ giöse Krisis im Volke zu einer reformatorischen That drängte. — Wir haben darauf schließlich noch mit einigen Worten hinzuweisen. Die Kreuzzugszeit des Islam, wo die Kampflust aus dem Fanatismus Nahrung zog, ist längst vorüber. Religiöser Eifer im Sinne der großen Erobernngszcit ist heute nur noch bei einzelnen Stämmen entfernter Reiche der asiatischen Türkei zu finden, und auch dort regt er sich nicht ohne besondere Veranlassung, die Türken in Konstantinopel sind weit eher tolerant zu nennen, als fanatisch. Wer nicht etwa die jetzt beliebten Vergnügungsfahrten nach Konstantinopel mitmacht, welche von Lohndiener» der Hotels und türkischen Beamten zu den schamlosesten Prellereien der unwissende» Reisenden benutzt zu werden scheinen — und wer sich sonst anständig beträgt, kann in Konstantinopel jede Moschee mit Ausnahme der einzigen von Ejub, in welcher sich die Fahne des Propheten und das Grab seines Fahnenträgers befinden soll, zu jeder Tageszeit, selbst während des Got¬ tesdienstes unbelästigt und auch ohne Steuer besuchen. Ein wahres Curiosum von Toleranz ist es doch, wenn Abdul Medschid sichs gefallen ließ, den Hosen¬ bandorden anzulegen, der, was dem Sultan natürlich erlassen wurde, eigentlich den Schwur verlangt, gegen die Ungläubigen zu Felde ziehen zu wollen. Daß er sich bei der Gelegenheit weigerte, sein Schwert, wie es das Ceremoniell vor¬ schreibt, auf einen Augenblick abzulegen, ist darauf zurückzuführen, daß dasselbe für ihn die Bedeutung der Krone hat. wie die Schwertumgürtung die der Krö¬ nung, — und wenn er damals äußerte: „er sei Osmane, und erlange er die ^dre, die man ihm erweisen wolle, nur dadurch, daß er dies vergäße, dann

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/313>, abgerufen am 26.07.2024.