Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

wie der'^CHronist Ezaad Effendi sagt, "die in Freiheit auf den Weiden der
Unordnung herumjagten, die sich nicht wollten am Pfahl des Gehorsams fest¬
binden lassen, die sich als Könige des Landes betrachteten, das Feuer unter dem
Kessel der Widersetzlichkeit schürten und an dem Halsband des Gehorsams seit¬
dem." Er vernichtete die Feudalherrschaft, durch welche das Land sich in den
Händen einer Unzahl kleiner Lehnshäuptlinge befand, welche sich möglich selb¬
ständig zu halten trachteten, keine Steuer gaben und eine Centralisation der
Verwaltung unmöglich machten; erst Mahmud theilte das Reich in seine jetzigen
sechsundvierzig Statthalterschaften, schuf ein verhältnißmäßig geordnetes, cen-
tralisirtes Verwaltungswesen und Steuersystem, machte einen Anfang in Eröff¬
nung von Verkehrswegen, Anlegung von Straßen, mit Errichtung eines auf
europäischem Fuße stehenden Heeres und einer solchen Marine, mit Einführung
eines wissenschaftlichen Unterrichts und zeichnete so seinen Nachfolgern nach jeder
Seite hin die Wege vor, welche'sie weiter zu betreten hatten. Verzweifelnd an
seinem Werk, das ihm nur den Haß und die Flüche der alttüitischen Partei
einbrachte und seinem unruhigen Geist zu langsam vorwärtsschritt, überläßt er
sich schließlich dem Trunke und stirbt im einsamen Gemach freudlos und un-
betrauert, aber nicht ohne seinem Sohne noch auf dem Sterbebette die Reformen
dringend ans Herz gelegt zu haben.*)

Nur siebzehnjährig und völlig unerfahren verläßt Abdul Medschid die Ein¬
samkeit und den strengen Gewahrsam des Palastes, in welcher die Prinzen ge¬
halten werden, um den unterwühlten Thron seiner vorfahren zu besteigen. Es
war ein unsägliches Unglück für das Reich, daß dem straffen, fast überstrengen
Regiment jenes osmanischen Vertreters des äespotismö Lclair-ü das schwache
eines Kindes folgte, welches Minister und Diplomaten als Spielball behandelten.
Denn das ist er sein Lebelang geblieben; gutgewillt, eine liebenswürdige, sanfte
Persönlichkeit von fast frauenhafter Milde, aber schwach und schwankend, in¬
mitten rauher Zeiten, die harten Stoff verlangten. Wer ihn gesehen hat, die
schmächtige Gestalt in seinem einfachen Costüm, an welchem nur die diamantene
Agraffe an dem dunkelblauen Mantel und an dem Fez den Kaiser erkennen
ließ, mit dem bleichen, von dunklen Bart umschatteten Gesicht, den tiefen
schönen Augen, die stets voll Schwermut!) auf der Menge zu liegen schienen.
Vergißt den Anblick nie. Der Sultan entzieht sich den Augen des Volkes nicht,
wie so oft noch behauptet wird. Alle Freitage begiebt er sich mit zahlreichem
Gefolge in feierlichem Zuge in die Moschee, das Gebet als Haupt des Islam
selbst zu verrichten oder in seinem Namen verrichten zu lasse", und wer in der



') Die Geschichte der Türkei von Dr. G. Nosen (11, Band der Staatengeschichte
der neuesten Zeit, Verlag von S. Hirzel 186K), auf welche wir zur Ergänzung der politischen
Vorgänge während der bedeutsamen Übergangsperiode seit 182K vor allein verweisen, führt
in dem bisher erschienenen ersten Theil bis zum Tode Machmud des Zweiten-

wie der'^CHronist Ezaad Effendi sagt, „die in Freiheit auf den Weiden der
Unordnung herumjagten, die sich nicht wollten am Pfahl des Gehorsams fest¬
binden lassen, die sich als Könige des Landes betrachteten, das Feuer unter dem
Kessel der Widersetzlichkeit schürten und an dem Halsband des Gehorsams seit¬
dem." Er vernichtete die Feudalherrschaft, durch welche das Land sich in den
Händen einer Unzahl kleiner Lehnshäuptlinge befand, welche sich möglich selb¬
ständig zu halten trachteten, keine Steuer gaben und eine Centralisation der
Verwaltung unmöglich machten; erst Mahmud theilte das Reich in seine jetzigen
sechsundvierzig Statthalterschaften, schuf ein verhältnißmäßig geordnetes, cen-
tralisirtes Verwaltungswesen und Steuersystem, machte einen Anfang in Eröff¬
nung von Verkehrswegen, Anlegung von Straßen, mit Errichtung eines auf
europäischem Fuße stehenden Heeres und einer solchen Marine, mit Einführung
eines wissenschaftlichen Unterrichts und zeichnete so seinen Nachfolgern nach jeder
Seite hin die Wege vor, welche'sie weiter zu betreten hatten. Verzweifelnd an
seinem Werk, das ihm nur den Haß und die Flüche der alttüitischen Partei
einbrachte und seinem unruhigen Geist zu langsam vorwärtsschritt, überläßt er
sich schließlich dem Trunke und stirbt im einsamen Gemach freudlos und un-
betrauert, aber nicht ohne seinem Sohne noch auf dem Sterbebette die Reformen
dringend ans Herz gelegt zu haben.*)

Nur siebzehnjährig und völlig unerfahren verläßt Abdul Medschid die Ein¬
samkeit und den strengen Gewahrsam des Palastes, in welcher die Prinzen ge¬
halten werden, um den unterwühlten Thron seiner vorfahren zu besteigen. Es
war ein unsägliches Unglück für das Reich, daß dem straffen, fast überstrengen
Regiment jenes osmanischen Vertreters des äespotismö Lclair-ü das schwache
eines Kindes folgte, welches Minister und Diplomaten als Spielball behandelten.
Denn das ist er sein Lebelang geblieben; gutgewillt, eine liebenswürdige, sanfte
Persönlichkeit von fast frauenhafter Milde, aber schwach und schwankend, in¬
mitten rauher Zeiten, die harten Stoff verlangten. Wer ihn gesehen hat, die
schmächtige Gestalt in seinem einfachen Costüm, an welchem nur die diamantene
Agraffe an dem dunkelblauen Mantel und an dem Fez den Kaiser erkennen
ließ, mit dem bleichen, von dunklen Bart umschatteten Gesicht, den tiefen
schönen Augen, die stets voll Schwermut!) auf der Menge zu liegen schienen.
Vergißt den Anblick nie. Der Sultan entzieht sich den Augen des Volkes nicht,
wie so oft noch behauptet wird. Alle Freitage begiebt er sich mit zahlreichem
Gefolge in feierlichem Zuge in die Moschee, das Gebet als Haupt des Islam
selbst zu verrichten oder in seinem Namen verrichten zu lasse», und wer in der



') Die Geschichte der Türkei von Dr. G. Nosen (11, Band der Staatengeschichte
der neuesten Zeit, Verlag von S. Hirzel 186K), auf welche wir zur Ergänzung der politischen
Vorgänge während der bedeutsamen Übergangsperiode seit 182K vor allein verweisen, führt
in dem bisher erschienenen ersten Theil bis zum Tode Machmud des Zweiten-
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0308" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190467"/>
          <p xml:id="ID_1056" prev="#ID_1055"> wie der'^CHronist Ezaad Effendi sagt, &#x201E;die in Freiheit auf den Weiden der<lb/>
Unordnung herumjagten, die sich nicht wollten am Pfahl des Gehorsams fest¬<lb/>
binden lassen, die sich als Könige des Landes betrachteten, das Feuer unter dem<lb/>
Kessel der Widersetzlichkeit schürten und an dem Halsband des Gehorsams seit¬<lb/>
dem." Er vernichtete die Feudalherrschaft, durch welche das Land sich in den<lb/>
Händen einer Unzahl kleiner Lehnshäuptlinge befand, welche sich möglich selb¬<lb/>
ständig zu halten trachteten, keine Steuer gaben und eine Centralisation der<lb/>
Verwaltung unmöglich machten; erst Mahmud theilte das Reich in seine jetzigen<lb/>
sechsundvierzig Statthalterschaften, schuf ein verhältnißmäßig geordnetes, cen-<lb/>
tralisirtes Verwaltungswesen und Steuersystem, machte einen Anfang in Eröff¬<lb/>
nung von Verkehrswegen, Anlegung von Straßen, mit Errichtung eines auf<lb/>
europäischem Fuße stehenden Heeres und einer solchen Marine, mit Einführung<lb/>
eines wissenschaftlichen Unterrichts und zeichnete so seinen Nachfolgern nach jeder<lb/>
Seite hin die Wege vor, welche'sie weiter zu betreten hatten. Verzweifelnd an<lb/>
seinem Werk, das ihm nur den Haß und die Flüche der alttüitischen Partei<lb/>
einbrachte und seinem unruhigen Geist zu langsam vorwärtsschritt, überläßt er<lb/>
sich schließlich dem Trunke und stirbt im einsamen Gemach freudlos und un-<lb/>
betrauert, aber nicht ohne seinem Sohne noch auf dem Sterbebette die Reformen<lb/>
dringend ans Herz gelegt zu haben.*)</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1057" next="#ID_1058"> Nur siebzehnjährig und völlig unerfahren verläßt Abdul Medschid die Ein¬<lb/>
samkeit und den strengen Gewahrsam des Palastes, in welcher die Prinzen ge¬<lb/>
halten werden, um den unterwühlten Thron seiner vorfahren zu besteigen. Es<lb/>
war ein unsägliches Unglück für das Reich, daß dem straffen, fast überstrengen<lb/>
Regiment jenes osmanischen Vertreters des äespotismö Lclair-ü das schwache<lb/>
eines Kindes folgte, welches Minister und Diplomaten als Spielball behandelten.<lb/>
Denn das ist er sein Lebelang geblieben; gutgewillt, eine liebenswürdige, sanfte<lb/>
Persönlichkeit von fast frauenhafter Milde, aber schwach und schwankend, in¬<lb/>
mitten rauher Zeiten, die harten Stoff verlangten. Wer ihn gesehen hat, die<lb/>
schmächtige Gestalt in seinem einfachen Costüm, an welchem nur die diamantene<lb/>
Agraffe an dem dunkelblauen Mantel und an dem Fez den Kaiser erkennen<lb/>
ließ, mit dem bleichen, von dunklen Bart umschatteten Gesicht, den tiefen<lb/>
schönen Augen, die stets voll Schwermut!) auf der Menge zu liegen schienen.<lb/>
Vergißt den Anblick nie. Der Sultan entzieht sich den Augen des Volkes nicht,<lb/>
wie so oft noch behauptet wird. Alle Freitage begiebt er sich mit zahlreichem<lb/>
Gefolge in feierlichem Zuge in die Moschee, das Gebet als Haupt des Islam<lb/>
selbst zu verrichten oder in seinem Namen verrichten zu lasse», und wer in der</p><lb/>
          <note xml:id="FID_22" place="foot"> ') Die Geschichte der Türkei von Dr. G. Nosen (11, Band der Staatengeschichte<lb/>
der neuesten Zeit, Verlag von S. Hirzel 186K), auf welche wir zur Ergänzung der politischen<lb/>
Vorgänge während der bedeutsamen Übergangsperiode seit 182K vor allein verweisen, führt<lb/>
in dem bisher erschienenen ersten Theil bis zum Tode Machmud des Zweiten-</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0308] wie der'^CHronist Ezaad Effendi sagt, „die in Freiheit auf den Weiden der Unordnung herumjagten, die sich nicht wollten am Pfahl des Gehorsams fest¬ binden lassen, die sich als Könige des Landes betrachteten, das Feuer unter dem Kessel der Widersetzlichkeit schürten und an dem Halsband des Gehorsams seit¬ dem." Er vernichtete die Feudalherrschaft, durch welche das Land sich in den Händen einer Unzahl kleiner Lehnshäuptlinge befand, welche sich möglich selb¬ ständig zu halten trachteten, keine Steuer gaben und eine Centralisation der Verwaltung unmöglich machten; erst Mahmud theilte das Reich in seine jetzigen sechsundvierzig Statthalterschaften, schuf ein verhältnißmäßig geordnetes, cen- tralisirtes Verwaltungswesen und Steuersystem, machte einen Anfang in Eröff¬ nung von Verkehrswegen, Anlegung von Straßen, mit Errichtung eines auf europäischem Fuße stehenden Heeres und einer solchen Marine, mit Einführung eines wissenschaftlichen Unterrichts und zeichnete so seinen Nachfolgern nach jeder Seite hin die Wege vor, welche'sie weiter zu betreten hatten. Verzweifelnd an seinem Werk, das ihm nur den Haß und die Flüche der alttüitischen Partei einbrachte und seinem unruhigen Geist zu langsam vorwärtsschritt, überläßt er sich schließlich dem Trunke und stirbt im einsamen Gemach freudlos und un- betrauert, aber nicht ohne seinem Sohne noch auf dem Sterbebette die Reformen dringend ans Herz gelegt zu haben.*) Nur siebzehnjährig und völlig unerfahren verläßt Abdul Medschid die Ein¬ samkeit und den strengen Gewahrsam des Palastes, in welcher die Prinzen ge¬ halten werden, um den unterwühlten Thron seiner vorfahren zu besteigen. Es war ein unsägliches Unglück für das Reich, daß dem straffen, fast überstrengen Regiment jenes osmanischen Vertreters des äespotismö Lclair-ü das schwache eines Kindes folgte, welches Minister und Diplomaten als Spielball behandelten. Denn das ist er sein Lebelang geblieben; gutgewillt, eine liebenswürdige, sanfte Persönlichkeit von fast frauenhafter Milde, aber schwach und schwankend, in¬ mitten rauher Zeiten, die harten Stoff verlangten. Wer ihn gesehen hat, die schmächtige Gestalt in seinem einfachen Costüm, an welchem nur die diamantene Agraffe an dem dunkelblauen Mantel und an dem Fez den Kaiser erkennen ließ, mit dem bleichen, von dunklen Bart umschatteten Gesicht, den tiefen schönen Augen, die stets voll Schwermut!) auf der Menge zu liegen schienen. Vergißt den Anblick nie. Der Sultan entzieht sich den Augen des Volkes nicht, wie so oft noch behauptet wird. Alle Freitage begiebt er sich mit zahlreichem Gefolge in feierlichem Zuge in die Moschee, das Gebet als Haupt des Islam selbst zu verrichten oder in seinem Namen verrichten zu lasse», und wer in der ') Die Geschichte der Türkei von Dr. G. Nosen (11, Band der Staatengeschichte der neuesten Zeit, Verlag von S. Hirzel 186K), auf welche wir zur Ergänzung der politischen Vorgänge während der bedeutsamen Übergangsperiode seit 182K vor allein verweisen, führt in dem bisher erschienenen ersten Theil bis zum Tode Machmud des Zweiten-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/308
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/308>, abgerufen am 26.09.2024.