Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

sichtigem Bau vor uns und eine Grammatik, in deren Werkstätte wir hinein¬
blicken könne", wie in einen Bienenstock von Glas, indem die Zellen vor un¬
serem Auge entstehen. Ein ausgezeichneter Orientalist bemerkt einmal,- man
könnte das Türkische für das Resultat der Beratschlagungen einer Gesellschaft
ausgezeichneter Gelehrten Halle". Aber auch eine solche Gesellschaft würde das
nicht haben erdenken können, was der Menschengeist in den Steppen der Tar-
tarei sich selbst überlassen und nur geleitet von seinem ihm eingebornen Gesetz
oder durch eine Macht des Instinkts, die ebenso wunderbar als irgendeine
andere in dem Naturreich wirkte, hervorzubringen vermochte." In dieser Voll¬
kommenheit hat sich die Sprache aber im Wesentlichen bis in die Gegenwart
hinein erhalten.

Man werfe nicht ein, diese Charakteristik des Volkes sei zu ideal gehalten,
und verschweige seine Schattenseiten. Die Gebrechen der türkischen Zustände
siud anderswo zu suchen als in der Beschaffenheit des Volks-Ganzen. Man
erinnert an die sittenlosen Zustände der Türkei, und es giebt des sittlichen Ver¬
derbens, wie überall, auch dort genug. Aber es wollte uns immer bedünken,
als sei dasselbe trotz einzelner dein ganzen alten wie neue" Orient eigenthüm¬
licher Laster immer noch weil gningcr, als bei uns. Ma" erinnert an den
Fanatismus, die Unduldsamkeit den Europäern gegenüber, an die Grausamkeit
und den hochfahrende" Sinn der Türken. Unsere Wahrnehmung hat uns stets
gezeigt, daß der Türke Achtung und Freundlichkeit dem entgegenbringt, der sie
ihm erweist, daß er wohl beobachtend sich zurückhält, Geringschätzung und Ver¬
achtung nur dem weist, der sie ihm zu verdienen scheint. Wie es mit dem Fa¬
natismus steht, soll bei einem Blicke auf ihr religiöses Lebe" erörtert wer¬
den. Unanwcndbar aber ist unsre Charakteristik auf die trübere" Schichten der
vornehmere" Gesellschaft, der Beamten- und Regieruiigskreisc, sie ruht auf
Beobachtungen in Koustantiiwpel u"d seiner näheren Umgebung und wir geben zu,
daß das Bild in. Einzelne" eine etwas andere, obwohl im Wesentlichen über¬
einstimmende Ausführung erfahren würde, wollte man auch die Bevölkerung in
den entlegenen Strichen des Reiches, etwa im Innern von Kleinasien oder in
Syrien, mit in die Betrachtung hineinziehen. Da würden die Präoicate, die
wir a" die Spitze stellten, nur in den Bedeutungen des trotzigen, ja selbst
wilden Sinnes Geltung habe"; aber von Entartung oder Verwilderung würde
auch dies sehr verschiede" sei".

Durchweg fehlt den Türken die Höhere wissenschaftliche Bildung des Occidents.
wie allen Völkern des asiatischen und auch des europäischen Orients, wie also
auch ihren Nachbarn den Serben, Wallachen, Bulgaren und allen übrige" Do-
uauvölkern, die wir doch milder zu beurtheilt" pflegen; solche Bildung hat kaum
begonnen die höchsten Spitzen des türkischen Volkes zu berühren. Aber die
große Masse des Volkes, mit welcher wir es doch immer zunächst zu thun habe",


sichtigem Bau vor uns und eine Grammatik, in deren Werkstätte wir hinein¬
blicken könne», wie in einen Bienenstock von Glas, indem die Zellen vor un¬
serem Auge entstehen. Ein ausgezeichneter Orientalist bemerkt einmal,- man
könnte das Türkische für das Resultat der Beratschlagungen einer Gesellschaft
ausgezeichneter Gelehrten Halle». Aber auch eine solche Gesellschaft würde das
nicht haben erdenken können, was der Menschengeist in den Steppen der Tar-
tarei sich selbst überlassen und nur geleitet von seinem ihm eingebornen Gesetz
oder durch eine Macht des Instinkts, die ebenso wunderbar als irgendeine
andere in dem Naturreich wirkte, hervorzubringen vermochte." In dieser Voll¬
kommenheit hat sich die Sprache aber im Wesentlichen bis in die Gegenwart
hinein erhalten.

Man werfe nicht ein, diese Charakteristik des Volkes sei zu ideal gehalten,
und verschweige seine Schattenseiten. Die Gebrechen der türkischen Zustände
siud anderswo zu suchen als in der Beschaffenheit des Volks-Ganzen. Man
erinnert an die sittenlosen Zustände der Türkei, und es giebt des sittlichen Ver¬
derbens, wie überall, auch dort genug. Aber es wollte uns immer bedünken,
als sei dasselbe trotz einzelner dein ganzen alten wie neue» Orient eigenthüm¬
licher Laster immer noch weil gningcr, als bei uns. Ma» erinnert an den
Fanatismus, die Unduldsamkeit den Europäern gegenüber, an die Grausamkeit
und den hochfahrende» Sinn der Türken. Unsere Wahrnehmung hat uns stets
gezeigt, daß der Türke Achtung und Freundlichkeit dem entgegenbringt, der sie
ihm erweist, daß er wohl beobachtend sich zurückhält, Geringschätzung und Ver¬
achtung nur dem weist, der sie ihm zu verdienen scheint. Wie es mit dem Fa¬
natismus steht, soll bei einem Blicke auf ihr religiöses Lebe» erörtert wer¬
den. Unanwcndbar aber ist unsre Charakteristik auf die trübere» Schichten der
vornehmere» Gesellschaft, der Beamten- und Regieruiigskreisc, sie ruht auf
Beobachtungen in Koustantiiwpel u»d seiner näheren Umgebung und wir geben zu,
daß das Bild in. Einzelne» eine etwas andere, obwohl im Wesentlichen über¬
einstimmende Ausführung erfahren würde, wollte man auch die Bevölkerung in
den entlegenen Strichen des Reiches, etwa im Innern von Kleinasien oder in
Syrien, mit in die Betrachtung hineinziehen. Da würden die Präoicate, die
wir a» die Spitze stellten, nur in den Bedeutungen des trotzigen, ja selbst
wilden Sinnes Geltung habe»; aber von Entartung oder Verwilderung würde
auch dies sehr verschiede» sei».

Durchweg fehlt den Türken die Höhere wissenschaftliche Bildung des Occidents.
wie allen Völkern des asiatischen und auch des europäischen Orients, wie also
auch ihren Nachbarn den Serben, Wallachen, Bulgaren und allen übrige» Do-
uauvölkern, die wir doch milder zu beurtheilt» pflegen; solche Bildung hat kaum
begonnen die höchsten Spitzen des türkischen Volkes zu berühren. Aber die
große Masse des Volkes, mit welcher wir es doch immer zunächst zu thun habe»,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0271" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190430"/>
          <p xml:id="ID_934" prev="#ID_933"> sichtigem Bau vor uns und eine Grammatik, in deren Werkstätte wir hinein¬<lb/>
blicken könne», wie in einen Bienenstock von Glas, indem die Zellen vor un¬<lb/>
serem Auge entstehen. Ein ausgezeichneter Orientalist bemerkt einmal,- man<lb/>
könnte das Türkische für das Resultat der Beratschlagungen einer Gesellschaft<lb/>
ausgezeichneter Gelehrten Halle». Aber auch eine solche Gesellschaft würde das<lb/>
nicht haben erdenken können, was der Menschengeist in den Steppen der Tar-<lb/>
tarei sich selbst überlassen und nur geleitet von seinem ihm eingebornen Gesetz<lb/>
oder durch eine Macht des Instinkts, die ebenso wunderbar als irgendeine<lb/>
andere in dem Naturreich wirkte, hervorzubringen vermochte." In dieser Voll¬<lb/>
kommenheit hat sich die Sprache aber im Wesentlichen bis in die Gegenwart<lb/>
hinein erhalten.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_935"> Man werfe nicht ein, diese Charakteristik des Volkes sei zu ideal gehalten,<lb/>
und verschweige seine Schattenseiten. Die Gebrechen der türkischen Zustände<lb/>
siud anderswo zu suchen als in der Beschaffenheit des Volks-Ganzen. Man<lb/>
erinnert an die sittenlosen Zustände der Türkei, und es giebt des sittlichen Ver¬<lb/>
derbens, wie überall, auch dort genug. Aber es wollte uns immer bedünken,<lb/>
als sei dasselbe trotz einzelner dein ganzen alten wie neue» Orient eigenthüm¬<lb/>
licher Laster immer noch weil gningcr, als bei uns. Ma» erinnert an den<lb/>
Fanatismus, die Unduldsamkeit den Europäern gegenüber, an die Grausamkeit<lb/>
und den hochfahrende» Sinn der Türken. Unsere Wahrnehmung hat uns stets<lb/>
gezeigt, daß der Türke Achtung und Freundlichkeit dem entgegenbringt, der sie<lb/>
ihm erweist, daß er wohl beobachtend sich zurückhält, Geringschätzung und Ver¬<lb/>
achtung nur dem weist, der sie ihm zu verdienen scheint. Wie es mit dem Fa¬<lb/>
natismus steht, soll bei einem Blicke auf ihr religiöses Lebe» erörtert wer¬<lb/>
den. Unanwcndbar aber ist unsre Charakteristik auf die trübere» Schichten der<lb/>
vornehmere» Gesellschaft, der Beamten- und Regieruiigskreisc, sie ruht auf<lb/>
Beobachtungen in Koustantiiwpel u»d seiner näheren Umgebung und wir geben zu,<lb/>
daß das Bild in. Einzelne» eine etwas andere, obwohl im Wesentlichen über¬<lb/>
einstimmende Ausführung erfahren würde, wollte man auch die Bevölkerung in<lb/>
den entlegenen Strichen des Reiches, etwa im Innern von Kleinasien oder in<lb/>
Syrien, mit in die Betrachtung hineinziehen. Da würden die Präoicate, die<lb/>
wir a» die Spitze stellten, nur in den Bedeutungen des trotzigen, ja selbst<lb/>
wilden Sinnes Geltung habe»; aber von Entartung oder Verwilderung würde<lb/>
auch dies sehr verschiede» sei».</p><lb/>
          <p xml:id="ID_936" next="#ID_937"> Durchweg fehlt den Türken die Höhere wissenschaftliche Bildung des Occidents.<lb/>
wie allen Völkern des asiatischen und auch des europäischen Orients, wie also<lb/>
auch ihren Nachbarn den Serben, Wallachen, Bulgaren und allen übrige» Do-<lb/>
uauvölkern, die wir doch milder zu beurtheilt» pflegen; solche Bildung hat kaum<lb/>
begonnen die höchsten Spitzen des türkischen Volkes zu berühren. Aber die<lb/>
große Masse des Volkes, mit welcher wir es doch immer zunächst zu thun habe»,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0271] sichtigem Bau vor uns und eine Grammatik, in deren Werkstätte wir hinein¬ blicken könne», wie in einen Bienenstock von Glas, indem die Zellen vor un¬ serem Auge entstehen. Ein ausgezeichneter Orientalist bemerkt einmal,- man könnte das Türkische für das Resultat der Beratschlagungen einer Gesellschaft ausgezeichneter Gelehrten Halle». Aber auch eine solche Gesellschaft würde das nicht haben erdenken können, was der Menschengeist in den Steppen der Tar- tarei sich selbst überlassen und nur geleitet von seinem ihm eingebornen Gesetz oder durch eine Macht des Instinkts, die ebenso wunderbar als irgendeine andere in dem Naturreich wirkte, hervorzubringen vermochte." In dieser Voll¬ kommenheit hat sich die Sprache aber im Wesentlichen bis in die Gegenwart hinein erhalten. Man werfe nicht ein, diese Charakteristik des Volkes sei zu ideal gehalten, und verschweige seine Schattenseiten. Die Gebrechen der türkischen Zustände siud anderswo zu suchen als in der Beschaffenheit des Volks-Ganzen. Man erinnert an die sittenlosen Zustände der Türkei, und es giebt des sittlichen Ver¬ derbens, wie überall, auch dort genug. Aber es wollte uns immer bedünken, als sei dasselbe trotz einzelner dein ganzen alten wie neue» Orient eigenthüm¬ licher Laster immer noch weil gningcr, als bei uns. Ma» erinnert an den Fanatismus, die Unduldsamkeit den Europäern gegenüber, an die Grausamkeit und den hochfahrende» Sinn der Türken. Unsere Wahrnehmung hat uns stets gezeigt, daß der Türke Achtung und Freundlichkeit dem entgegenbringt, der sie ihm erweist, daß er wohl beobachtend sich zurückhält, Geringschätzung und Ver¬ achtung nur dem weist, der sie ihm zu verdienen scheint. Wie es mit dem Fa¬ natismus steht, soll bei einem Blicke auf ihr religiöses Lebe» erörtert wer¬ den. Unanwcndbar aber ist unsre Charakteristik auf die trübere» Schichten der vornehmere» Gesellschaft, der Beamten- und Regieruiigskreisc, sie ruht auf Beobachtungen in Koustantiiwpel u»d seiner näheren Umgebung und wir geben zu, daß das Bild in. Einzelne» eine etwas andere, obwohl im Wesentlichen über¬ einstimmende Ausführung erfahren würde, wollte man auch die Bevölkerung in den entlegenen Strichen des Reiches, etwa im Innern von Kleinasien oder in Syrien, mit in die Betrachtung hineinziehen. Da würden die Präoicate, die wir a» die Spitze stellten, nur in den Bedeutungen des trotzigen, ja selbst wilden Sinnes Geltung habe»; aber von Entartung oder Verwilderung würde auch dies sehr verschiede» sei». Durchweg fehlt den Türken die Höhere wissenschaftliche Bildung des Occidents. wie allen Völkern des asiatischen und auch des europäischen Orients, wie also auch ihren Nachbarn den Serben, Wallachen, Bulgaren und allen übrige» Do- uauvölkern, die wir doch milder zu beurtheilt» pflegen; solche Bildung hat kaum begonnen die höchsten Spitzen des türkischen Volkes zu berühren. Aber die große Masse des Volkes, mit welcher wir es doch immer zunächst zu thun habe»,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/271
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/271>, abgerufen am 22.12.2024.