Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

im russischen Sinn auf die Volksschulen einzuwirken, ihre Bestrebungen waren
aller zu vereinzelt, um nachhaltig auf die todten Massen zu wirken, deren niederer
Bildungsgrad jede allgemeinere Betheiligung an idealen Interessen ausschloß.
Der Einfluß der herrschenden Classe und die geistige Überlegenheit derselben
waren trotz des Verlustes der politischen Unabhängigkeit, auf welche sie begründet
gewesen waren, zu tief gewurzelt und zu bedeutend, um innerhalb der Grenzen
des alten polnischen Staatsgebiets irgendein nichtpolnisches Element aufkommen
zu lassen.

Die polnische Aristokratie war aber unklug und halsstarrig genug, all die
Lehren, welche die Geschichte des 18. Jahrhunderts ihr ertheilt hatte, unbenutzt zu
lassen. Die Vollendung der Polonisation Nothrußlands hatte einen erträglichen
Zustand der ländlichen Bevölkerung, eine dieselbe befriedigende Lösung der durch
das josephinische Nobotpatent in Bewegung gebrachten, aber unvollendet ge¬
bliebenen Agrarfrage zur nothwendigen Voraussetzung, -- statt diese zu fördern
war der polnische Adel auch während der ersten vierzigJahre des 19. Jahrhunderts
unablässig bemüht, die dem Bauernstande gemachten Concessionen abzuschwächen,
Womöglich rückgängig zu machen. Durch den steten Kampf um Aufrechthaltung
und Erhöhung des Robot verscherzte die Aristokratie die Achtung der Regierung
und die Sympathien des Landvolks, des russische" sowohl wie des polnischen.
In der westlichen Hälfte Galiziens, dem früheren Kleinpvlen, waren die bäuer¬
lichen Verhältnisse ebenso traurig, wie in der östlichen; der Schutz, den die öst¬
reichischen Beamten den bedrückten Bauern gewährten, stärkte den Einfluß der
Negierung auf Unkosten des Adels, der schließlich auf einem Völlig unterwühlten
Boden stand und seine Bauern zu gefährlicheren Beobachtern und Wächtern des
Negierungsintcresses gemacht hatte, als es die östreichischen Beamten des trägen,
geistlosen mcttcrnichschcn Regimes waren. Während die französisch-polnische
Invasion von 1809 auch auf dem flachen Lande Bundesgenossen gefunden und
alte Erinnerungen wachgerufen hatte, wurde der polnische Aufstand von 1830
von den galizischen Bauern mit entschiedener Abneigung begrüßt und jede
Aeußerung der>Sympathie in aristokratischen Kreisen drohend überwacht. Sech¬
zehn Jahre später, gelegentlich des thörichten Aufstandes von 1846, der zahlreiche
Freunde unter dem Adel Galiziens zählte, und der dem Freistaat Krakau seine
Unabhängigkeit kostete, brach die lang verhaltene Wuth der mißhandelten und
verachteten russischen Bauern mit ungeahnter Energie los: jene Mordscenen
von Tarnow. zu denen die rathlose östreichische Bureaukratie Galiziens wenig¬
stens indirect und ohne Ahnung von der Tragweite ihres Verfahrens die Ver¬
anlassung gegeben hatte und die zu den scheußlichsten Ereignissen des Zeitalters
gehören, bekundeten ebenso den Haß des Bauernstandes gegen seine Unterdrücker,
wie dessen Hingebung an die Sache einer Regierung, die -- wenn auch im
übrigen Europa übel accreditirt -- in seinen Augen unvergleichlich besser und


32*

im russischen Sinn auf die Volksschulen einzuwirken, ihre Bestrebungen waren
aller zu vereinzelt, um nachhaltig auf die todten Massen zu wirken, deren niederer
Bildungsgrad jede allgemeinere Betheiligung an idealen Interessen ausschloß.
Der Einfluß der herrschenden Classe und die geistige Überlegenheit derselben
waren trotz des Verlustes der politischen Unabhängigkeit, auf welche sie begründet
gewesen waren, zu tief gewurzelt und zu bedeutend, um innerhalb der Grenzen
des alten polnischen Staatsgebiets irgendein nichtpolnisches Element aufkommen
zu lassen.

Die polnische Aristokratie war aber unklug und halsstarrig genug, all die
Lehren, welche die Geschichte des 18. Jahrhunderts ihr ertheilt hatte, unbenutzt zu
lassen. Die Vollendung der Polonisation Nothrußlands hatte einen erträglichen
Zustand der ländlichen Bevölkerung, eine dieselbe befriedigende Lösung der durch
das josephinische Nobotpatent in Bewegung gebrachten, aber unvollendet ge¬
bliebenen Agrarfrage zur nothwendigen Voraussetzung, — statt diese zu fördern
war der polnische Adel auch während der ersten vierzigJahre des 19. Jahrhunderts
unablässig bemüht, die dem Bauernstande gemachten Concessionen abzuschwächen,
Womöglich rückgängig zu machen. Durch den steten Kampf um Aufrechthaltung
und Erhöhung des Robot verscherzte die Aristokratie die Achtung der Regierung
und die Sympathien des Landvolks, des russische» sowohl wie des polnischen.
In der westlichen Hälfte Galiziens, dem früheren Kleinpvlen, waren die bäuer¬
lichen Verhältnisse ebenso traurig, wie in der östlichen; der Schutz, den die öst¬
reichischen Beamten den bedrückten Bauern gewährten, stärkte den Einfluß der
Negierung auf Unkosten des Adels, der schließlich auf einem Völlig unterwühlten
Boden stand und seine Bauern zu gefährlicheren Beobachtern und Wächtern des
Negierungsintcresses gemacht hatte, als es die östreichischen Beamten des trägen,
geistlosen mcttcrnichschcn Regimes waren. Während die französisch-polnische
Invasion von 1809 auch auf dem flachen Lande Bundesgenossen gefunden und
alte Erinnerungen wachgerufen hatte, wurde der polnische Aufstand von 1830
von den galizischen Bauern mit entschiedener Abneigung begrüßt und jede
Aeußerung der>Sympathie in aristokratischen Kreisen drohend überwacht. Sech¬
zehn Jahre später, gelegentlich des thörichten Aufstandes von 1846, der zahlreiche
Freunde unter dem Adel Galiziens zählte, und der dem Freistaat Krakau seine
Unabhängigkeit kostete, brach die lang verhaltene Wuth der mißhandelten und
verachteten russischen Bauern mit ungeahnter Energie los: jene Mordscenen
von Tarnow. zu denen die rathlose östreichische Bureaukratie Galiziens wenig¬
stens indirect und ohne Ahnung von der Tragweite ihres Verfahrens die Ver¬
anlassung gegeben hatte und die zu den scheußlichsten Ereignissen des Zeitalters
gehören, bekundeten ebenso den Haß des Bauernstandes gegen seine Unterdrücker,
wie dessen Hingebung an die Sache einer Regierung, die — wenn auch im
übrigen Europa übel accreditirt — in seinen Augen unvergleichlich besser und


32*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0261" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190420"/>
          <p xml:id="ID_902" prev="#ID_901"> im russischen Sinn auf die Volksschulen einzuwirken, ihre Bestrebungen waren<lb/>
aller zu vereinzelt, um nachhaltig auf die todten Massen zu wirken, deren niederer<lb/>
Bildungsgrad jede allgemeinere Betheiligung an idealen Interessen ausschloß.<lb/>
Der Einfluß der herrschenden Classe und die geistige Überlegenheit derselben<lb/>
waren trotz des Verlustes der politischen Unabhängigkeit, auf welche sie begründet<lb/>
gewesen waren, zu tief gewurzelt und zu bedeutend, um innerhalb der Grenzen<lb/>
des alten polnischen Staatsgebiets irgendein nichtpolnisches Element aufkommen<lb/>
zu lassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_903" next="#ID_904"> Die polnische Aristokratie war aber unklug und halsstarrig genug, all die<lb/>
Lehren, welche die Geschichte des 18. Jahrhunderts ihr ertheilt hatte, unbenutzt zu<lb/>
lassen. Die Vollendung der Polonisation Nothrußlands hatte einen erträglichen<lb/>
Zustand der ländlichen Bevölkerung, eine dieselbe befriedigende Lösung der durch<lb/>
das josephinische Nobotpatent in Bewegung gebrachten, aber unvollendet ge¬<lb/>
bliebenen Agrarfrage zur nothwendigen Voraussetzung, &#x2014; statt diese zu fördern<lb/>
war der polnische Adel auch während der ersten vierzigJahre des 19. Jahrhunderts<lb/>
unablässig bemüht, die dem Bauernstande gemachten Concessionen abzuschwächen,<lb/>
Womöglich rückgängig zu machen. Durch den steten Kampf um Aufrechthaltung<lb/>
und Erhöhung des Robot verscherzte die Aristokratie die Achtung der Regierung<lb/>
und die Sympathien des Landvolks, des russische» sowohl wie des polnischen.<lb/>
In der westlichen Hälfte Galiziens, dem früheren Kleinpvlen, waren die bäuer¬<lb/>
lichen Verhältnisse ebenso traurig, wie in der östlichen; der Schutz, den die öst¬<lb/>
reichischen Beamten den bedrückten Bauern gewährten, stärkte den Einfluß der<lb/>
Negierung auf Unkosten des Adels, der schließlich auf einem Völlig unterwühlten<lb/>
Boden stand und seine Bauern zu gefährlicheren Beobachtern und Wächtern des<lb/>
Negierungsintcresses gemacht hatte, als es die östreichischen Beamten des trägen,<lb/>
geistlosen mcttcrnichschcn Regimes waren. Während die französisch-polnische<lb/>
Invasion von 1809 auch auf dem flachen Lande Bundesgenossen gefunden und<lb/>
alte Erinnerungen wachgerufen hatte, wurde der polnische Aufstand von 1830<lb/>
von den galizischen Bauern mit entschiedener Abneigung begrüßt und jede<lb/>
Aeußerung der&gt;Sympathie in aristokratischen Kreisen drohend überwacht. Sech¬<lb/>
zehn Jahre später, gelegentlich des thörichten Aufstandes von 1846, der zahlreiche<lb/>
Freunde unter dem Adel Galiziens zählte, und der dem Freistaat Krakau seine<lb/>
Unabhängigkeit kostete, brach die lang verhaltene Wuth der mißhandelten und<lb/>
verachteten russischen Bauern mit ungeahnter Energie los: jene Mordscenen<lb/>
von Tarnow. zu denen die rathlose östreichische Bureaukratie Galiziens wenig¬<lb/>
stens indirect und ohne Ahnung von der Tragweite ihres Verfahrens die Ver¬<lb/>
anlassung gegeben hatte und die zu den scheußlichsten Ereignissen des Zeitalters<lb/>
gehören, bekundeten ebenso den Haß des Bauernstandes gegen seine Unterdrücker,<lb/>
wie dessen Hingebung an die Sache einer Regierung, die &#x2014; wenn auch im<lb/>
übrigen Europa übel accreditirt &#x2014; in seinen Augen unvergleichlich besser und</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 32*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0261] im russischen Sinn auf die Volksschulen einzuwirken, ihre Bestrebungen waren aller zu vereinzelt, um nachhaltig auf die todten Massen zu wirken, deren niederer Bildungsgrad jede allgemeinere Betheiligung an idealen Interessen ausschloß. Der Einfluß der herrschenden Classe und die geistige Überlegenheit derselben waren trotz des Verlustes der politischen Unabhängigkeit, auf welche sie begründet gewesen waren, zu tief gewurzelt und zu bedeutend, um innerhalb der Grenzen des alten polnischen Staatsgebiets irgendein nichtpolnisches Element aufkommen zu lassen. Die polnische Aristokratie war aber unklug und halsstarrig genug, all die Lehren, welche die Geschichte des 18. Jahrhunderts ihr ertheilt hatte, unbenutzt zu lassen. Die Vollendung der Polonisation Nothrußlands hatte einen erträglichen Zustand der ländlichen Bevölkerung, eine dieselbe befriedigende Lösung der durch das josephinische Nobotpatent in Bewegung gebrachten, aber unvollendet ge¬ bliebenen Agrarfrage zur nothwendigen Voraussetzung, — statt diese zu fördern war der polnische Adel auch während der ersten vierzigJahre des 19. Jahrhunderts unablässig bemüht, die dem Bauernstande gemachten Concessionen abzuschwächen, Womöglich rückgängig zu machen. Durch den steten Kampf um Aufrechthaltung und Erhöhung des Robot verscherzte die Aristokratie die Achtung der Regierung und die Sympathien des Landvolks, des russische» sowohl wie des polnischen. In der westlichen Hälfte Galiziens, dem früheren Kleinpvlen, waren die bäuer¬ lichen Verhältnisse ebenso traurig, wie in der östlichen; der Schutz, den die öst¬ reichischen Beamten den bedrückten Bauern gewährten, stärkte den Einfluß der Negierung auf Unkosten des Adels, der schließlich auf einem Völlig unterwühlten Boden stand und seine Bauern zu gefährlicheren Beobachtern und Wächtern des Negierungsintcresses gemacht hatte, als es die östreichischen Beamten des trägen, geistlosen mcttcrnichschcn Regimes waren. Während die französisch-polnische Invasion von 1809 auch auf dem flachen Lande Bundesgenossen gefunden und alte Erinnerungen wachgerufen hatte, wurde der polnische Aufstand von 1830 von den galizischen Bauern mit entschiedener Abneigung begrüßt und jede Aeußerung der>Sympathie in aristokratischen Kreisen drohend überwacht. Sech¬ zehn Jahre später, gelegentlich des thörichten Aufstandes von 1846, der zahlreiche Freunde unter dem Adel Galiziens zählte, und der dem Freistaat Krakau seine Unabhängigkeit kostete, brach die lang verhaltene Wuth der mißhandelten und verachteten russischen Bauern mit ungeahnter Energie los: jene Mordscenen von Tarnow. zu denen die rathlose östreichische Bureaukratie Galiziens wenig¬ stens indirect und ohne Ahnung von der Tragweite ihres Verfahrens die Ver¬ anlassung gegeben hatte und die zu den scheußlichsten Ereignissen des Zeitalters gehören, bekundeten ebenso den Haß des Bauernstandes gegen seine Unterdrücker, wie dessen Hingebung an die Sache einer Regierung, die — wenn auch im übrigen Europa übel accreditirt — in seinen Augen unvergleichlich besser und 32*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/261
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/261>, abgerufen am 22.12.2024.