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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Seele geführt werden. Ist es doch des Dichters edelste Aufgabe, der begeisterte
Lehrer seiner Zeit zu sein.

Anzuerkennen ist ferner, daß Lindners Stück voll Handlung und Leben
ist, und Laß nirgend der schwungvoll gehobene Geist, der es durchweht, zum
Matten oder Prosaischen herabsuu't. Dagegen hat man den schweren Vorwurf
erhoben, daß ihm die Einheit fehle, indem es aus zwei nur mechanisch mit ein¬
ander verbundenen Theilen, einer "Lucretia" und einem "Brutus und seine
Söhne" bestände. Dieser Einwurf trifft nicht unbedingt. Die Sache selbst
aber steht so: die Persönlichkeit, welche die Handlung zusammenhält, ist ganz
allein Brutus, so blendend auch die Folie des Collatinns ihm bisweilen zur
Seite tritt. Das Stück würde besser: "Das Opfer des Brutus" heißen; dar¬
auf hin ist es angelegt, wenn auch nicht in der Ausführung markirt genug
gerathen; dieses Motiv ist die ideale Höhe des Stückes, wenngleich der Tod der
Lucretia der in die Sinne fallende Höhepunkt ist. Da das Drama durch den
Druck und durch Ausführungen dem Publikum bekannt ist, kann ich von einer
Analyse absehen.

' So lose als man ihm hat vorwerfen wollen, ist es nicht gefügt. Der
Dichter hat vielmehr danach getrachtet, fo viel als möglich sichtbarlich zu moti-
Viren. Wie das Verhalten des Collatinns im vierten Acte nicht zu verstehen
wäre, wenn wir nicht das Unrecht, das ihm durch die Tarquinier geschehen, in
den vorhergehenden Acten selbst geschaut, so ist die Haltung der Söhne des Brutus
vom ersten Act an fortlaufend aufs eingehendste begründet; sie si"d in zartester
Jugend von Tenquinius an sich genommen und in dem Wahne einer fürstlichen
Abstammung erzogen worden; Tarquins Güte und Tullias Schlauheit, die ihre
Pläne auf sie baut, hält sie in gleichem Maße an das Königspaar gefesselt.
Der Dichter läßt uns ferner die Freude der römischen Bevölkerung an der neu¬
errungenen Freiheit, und die Wichtigkeit, diese Freiheit um jeden Preis erhalten
zu sehen, wirksam cmpfuidcn, indem er die Greuel des ganzen tarquinischen
Hauses vor uns ausschüttet, namentlich dadurch, daß er die That des Sextus
wesentlich als Werk der Königin Tnllia hinzustellen weiß, die, einst vom Volke
der Lucretia nachgesejzt und von Collatinus tödtlich gereizt, ihren Sohn, der
von Begierde brennt, die keusche Römerin zu erwerben, selbst ans den Gedanken
bringt, ihr Gewaln anzuthun. Der Zug ist keine Unmöglichkeit für eine Tnllia,
aber allerdings so stark dämonisch gefärbt, daß er nur durch die poetische Aus¬
führung noch auf der Grenze des ästhetisch Möglichen haltbar erscheint. Es ist
ferner Lindners Bestreben, den Zuschauer mit dem Schicksal seiner Personen mög¬
lichst zu versöhnen, ja man muß sagen, daß er seinen Gerechtigkeitssinn stellen¬
weise ins Minutiöse treibt. Wir wollen hier auf die -- nach unserer Meinung
ergreifendste Stelle des ganzen Stücks aufmerksam machen, um derentwillen
allein es werth wäre, nicht der Vergessenheit anheimzufallen. Ich meine die


Grenzboten I, 18S7. .

Seele geführt werden. Ist es doch des Dichters edelste Aufgabe, der begeisterte
Lehrer seiner Zeit zu sein.

Anzuerkennen ist ferner, daß Lindners Stück voll Handlung und Leben
ist, und Laß nirgend der schwungvoll gehobene Geist, der es durchweht, zum
Matten oder Prosaischen herabsuu't. Dagegen hat man den schweren Vorwurf
erhoben, daß ihm die Einheit fehle, indem es aus zwei nur mechanisch mit ein¬
ander verbundenen Theilen, einer „Lucretia" und einem „Brutus und seine
Söhne" bestände. Dieser Einwurf trifft nicht unbedingt. Die Sache selbst
aber steht so: die Persönlichkeit, welche die Handlung zusammenhält, ist ganz
allein Brutus, so blendend auch die Folie des Collatinns ihm bisweilen zur
Seite tritt. Das Stück würde besser: „Das Opfer des Brutus" heißen; dar¬
auf hin ist es angelegt, wenn auch nicht in der Ausführung markirt genug
gerathen; dieses Motiv ist die ideale Höhe des Stückes, wenngleich der Tod der
Lucretia der in die Sinne fallende Höhepunkt ist. Da das Drama durch den
Druck und durch Ausführungen dem Publikum bekannt ist, kann ich von einer
Analyse absehen.

' So lose als man ihm hat vorwerfen wollen, ist es nicht gefügt. Der
Dichter hat vielmehr danach getrachtet, fo viel als möglich sichtbarlich zu moti-
Viren. Wie das Verhalten des Collatinns im vierten Acte nicht zu verstehen
wäre, wenn wir nicht das Unrecht, das ihm durch die Tarquinier geschehen, in
den vorhergehenden Acten selbst geschaut, so ist die Haltung der Söhne des Brutus
vom ersten Act an fortlaufend aufs eingehendste begründet; sie si»d in zartester
Jugend von Tenquinius an sich genommen und in dem Wahne einer fürstlichen
Abstammung erzogen worden; Tarquins Güte und Tullias Schlauheit, die ihre
Pläne auf sie baut, hält sie in gleichem Maße an das Königspaar gefesselt.
Der Dichter läßt uns ferner die Freude der römischen Bevölkerung an der neu¬
errungenen Freiheit, und die Wichtigkeit, diese Freiheit um jeden Preis erhalten
zu sehen, wirksam cmpfuidcn, indem er die Greuel des ganzen tarquinischen
Hauses vor uns ausschüttet, namentlich dadurch, daß er die That des Sextus
wesentlich als Werk der Königin Tnllia hinzustellen weiß, die, einst vom Volke
der Lucretia nachgesejzt und von Collatinus tödtlich gereizt, ihren Sohn, der
von Begierde brennt, die keusche Römerin zu erwerben, selbst ans den Gedanken
bringt, ihr Gewaln anzuthun. Der Zug ist keine Unmöglichkeit für eine Tnllia,
aber allerdings so stark dämonisch gefärbt, daß er nur durch die poetische Aus¬
führung noch auf der Grenze des ästhetisch Möglichen haltbar erscheint. Es ist
ferner Lindners Bestreben, den Zuschauer mit dem Schicksal seiner Personen mög¬
lichst zu versöhnen, ja man muß sagen, daß er seinen Gerechtigkeitssinn stellen¬
weise ins Minutiöse treibt. Wir wollen hier auf die — nach unserer Meinung
ergreifendste Stelle des ganzen Stücks aufmerksam machen, um derentwillen
allein es werth wäre, nicht der Vergessenheit anheimzufallen. Ich meine die


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[0243] Seele geführt werden. Ist es doch des Dichters edelste Aufgabe, der begeisterte Lehrer seiner Zeit zu sein. Anzuerkennen ist ferner, daß Lindners Stück voll Handlung und Leben ist, und Laß nirgend der schwungvoll gehobene Geist, der es durchweht, zum Matten oder Prosaischen herabsuu't. Dagegen hat man den schweren Vorwurf erhoben, daß ihm die Einheit fehle, indem es aus zwei nur mechanisch mit ein¬ ander verbundenen Theilen, einer „Lucretia" und einem „Brutus und seine Söhne" bestände. Dieser Einwurf trifft nicht unbedingt. Die Sache selbst aber steht so: die Persönlichkeit, welche die Handlung zusammenhält, ist ganz allein Brutus, so blendend auch die Folie des Collatinns ihm bisweilen zur Seite tritt. Das Stück würde besser: „Das Opfer des Brutus" heißen; dar¬ auf hin ist es angelegt, wenn auch nicht in der Ausführung markirt genug gerathen; dieses Motiv ist die ideale Höhe des Stückes, wenngleich der Tod der Lucretia der in die Sinne fallende Höhepunkt ist. Da das Drama durch den Druck und durch Ausführungen dem Publikum bekannt ist, kann ich von einer Analyse absehen. ' So lose als man ihm hat vorwerfen wollen, ist es nicht gefügt. Der Dichter hat vielmehr danach getrachtet, fo viel als möglich sichtbarlich zu moti- Viren. Wie das Verhalten des Collatinns im vierten Acte nicht zu verstehen wäre, wenn wir nicht das Unrecht, das ihm durch die Tarquinier geschehen, in den vorhergehenden Acten selbst geschaut, so ist die Haltung der Söhne des Brutus vom ersten Act an fortlaufend aufs eingehendste begründet; sie si»d in zartester Jugend von Tenquinius an sich genommen und in dem Wahne einer fürstlichen Abstammung erzogen worden; Tarquins Güte und Tullias Schlauheit, die ihre Pläne auf sie baut, hält sie in gleichem Maße an das Königspaar gefesselt. Der Dichter läßt uns ferner die Freude der römischen Bevölkerung an der neu¬ errungenen Freiheit, und die Wichtigkeit, diese Freiheit um jeden Preis erhalten zu sehen, wirksam cmpfuidcn, indem er die Greuel des ganzen tarquinischen Hauses vor uns ausschüttet, namentlich dadurch, daß er die That des Sextus wesentlich als Werk der Königin Tnllia hinzustellen weiß, die, einst vom Volke der Lucretia nachgesejzt und von Collatinus tödtlich gereizt, ihren Sohn, der von Begierde brennt, die keusche Römerin zu erwerben, selbst ans den Gedanken bringt, ihr Gewaln anzuthun. Der Zug ist keine Unmöglichkeit für eine Tnllia, aber allerdings so stark dämonisch gefärbt, daß er nur durch die poetische Aus¬ führung noch auf der Grenze des ästhetisch Möglichen haltbar erscheint. Es ist ferner Lindners Bestreben, den Zuschauer mit dem Schicksal seiner Personen mög¬ lichst zu versöhnen, ja man muß sagen, daß er seinen Gerechtigkeitssinn stellen¬ weise ins Minutiöse treibt. Wir wollen hier auf die — nach unserer Meinung ergreifendste Stelle des ganzen Stücks aufmerksam machen, um derentwillen allein es werth wäre, nicht der Vergessenheit anheimzufallen. Ich meine die Grenzboten I, 18S7. .

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/243>, abgerufen am 04.07.2024.