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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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Annexion sicher auch den Schleswig-Holsteincrn durch königliches Patent schon
verkündet. Bis zum letzten Augenblick haben sich selbst Leute, welchen man ein
gesundes Urtheil hätte zutrauen sollen, gegen den Gedanken an die Möglichkeit
dieses Ausganges gewehrt. Aber der größere Theil der Gebildeten hat sich jetzt
Wohl schon mit dem Schicksal, preußisch zu werden, versöhnt. Die glänzenden
Erfolge des vorigen Sommers, die Erwerbung Hannovers und Kurhesseus
haben doch manchen überzeugt, daß der Beruf Preußens keine bloße Phrase ist
und daß die Selbständigkeit kleiner Staaten keinen Schutz gewährt. Viele sind
froh, jetzt plausible Borwände für ihren Uebergang ins Lager der Sieger zu
haben. Selbst ein Mann, wie Herr v, Stccmann, welcher unter Gablenz hol¬
steinischer Regierungsrath war. sucht seinen Frieden mit der Regierung zu
machen, ohne dadurch große" Anstoß zu erregen. Viele gewissenhafte Leute sind
ferner durch die endlich erfolgte, aber noch immer dankbar hinzunehmende Re¬
signation des Prinzen von der letzten Fessel befreit, welche sie von Preußen
zurückhielt. Ein Zeichen der Besserung in der Gesinnung ist es auch wohl, daß
sich Treitzschkes Vorlesungen über neuere Geschichte eines stets wachsenden, weit
über die Univcrsitatskreise hinausgehenden Beifalls erfreuen. -- Im deutschen
Schleswig ist endlich die Stimmung nie so verbittert gewesen, wie in Holstein.

Aber freilich würde man sich sehr irren, wenn man glaubte, die Schleswig-
Holsteiner seien auf dem besten Wege, gute Preußen zu werden. Die Massen
stehen verdrossen da oder fügen sich im besten Fall in das Unvermeidliche mit
der Stimmung des wahren Typus einer große" Classe des ganzen niederoeul-
schen Volkes, des unvergleichlichen Jochen Rüßler in Reuters "Stromtio", wenn
er sagt: "ijc, wat fall ick babi baun?" Die alten Führer können sich zum
großen Theil durchaus nicht von dem Gedanken eines selbständigen Schleswig-
Holstein trennen, und ebenso denkt immer noch ein großer Theil der Mittel¬
classe. Dazu wirkt die immerhin wahrscheinliche Abtretung eines Theiles von
Nordschleswig uiigünstig auf die Stimmung, wahrend diese freilich im Norden
selbst einen engen Zusammenschluß der Deutschen bewirkt hat. Eine fernere
Uisache antipreußischer Gesinnung, namentlich unter der Landbevölkerung, bilden
in Schleswig-Holstein wie in den anderen neucrworbencir Provinzen die preu¬
ßischen Militärcinrichtunge". Allerdings ist man dieses erste Mal von Seiten
der Militärbehörden mit solcher Rücksicht Verfahren, daß die Aushebung keines¬
wegs die ungünstige Wirkung gehabt hat, die man fürchtete.

Unter diesen Umständen nahen die Parlamentswahlen und geben unserem
Volke eine kaum gehoffte Gelegenheit, seine Meinung über die große" Ver¬
änderungen der letzte" Jahre auszuspreche". Bei der Allgemeinheit der Wahlen
und der geheimen Abgabe der Stimmen wäre es auch bei uns vollständig ver¬
kehrt, mit einiger Sicherheit den Ausfall vorherzusagen. Es kommen ja dabei
Volksclassen in Betracht, welche bis jetzt nie eine Rolle gespielt haben, wie


Annexion sicher auch den Schleswig-Holsteincrn durch königliches Patent schon
verkündet. Bis zum letzten Augenblick haben sich selbst Leute, welchen man ein
gesundes Urtheil hätte zutrauen sollen, gegen den Gedanken an die Möglichkeit
dieses Ausganges gewehrt. Aber der größere Theil der Gebildeten hat sich jetzt
Wohl schon mit dem Schicksal, preußisch zu werden, versöhnt. Die glänzenden
Erfolge des vorigen Sommers, die Erwerbung Hannovers und Kurhesseus
haben doch manchen überzeugt, daß der Beruf Preußens keine bloße Phrase ist
und daß die Selbständigkeit kleiner Staaten keinen Schutz gewährt. Viele sind
froh, jetzt plausible Borwände für ihren Uebergang ins Lager der Sieger zu
haben. Selbst ein Mann, wie Herr v, Stccmann, welcher unter Gablenz hol¬
steinischer Regierungsrath war. sucht seinen Frieden mit der Regierung zu
machen, ohne dadurch große» Anstoß zu erregen. Viele gewissenhafte Leute sind
ferner durch die endlich erfolgte, aber noch immer dankbar hinzunehmende Re¬
signation des Prinzen von der letzten Fessel befreit, welche sie von Preußen
zurückhielt. Ein Zeichen der Besserung in der Gesinnung ist es auch wohl, daß
sich Treitzschkes Vorlesungen über neuere Geschichte eines stets wachsenden, weit
über die Univcrsitatskreise hinausgehenden Beifalls erfreuen. — Im deutschen
Schleswig ist endlich die Stimmung nie so verbittert gewesen, wie in Holstein.

Aber freilich würde man sich sehr irren, wenn man glaubte, die Schleswig-
Holsteiner seien auf dem besten Wege, gute Preußen zu werden. Die Massen
stehen verdrossen da oder fügen sich im besten Fall in das Unvermeidliche mit
der Stimmung des wahren Typus einer große» Classe des ganzen niederoeul-
schen Volkes, des unvergleichlichen Jochen Rüßler in Reuters „Stromtio", wenn
er sagt: „ijc, wat fall ick babi baun?" Die alten Führer können sich zum
großen Theil durchaus nicht von dem Gedanken eines selbständigen Schleswig-
Holstein trennen, und ebenso denkt immer noch ein großer Theil der Mittel¬
classe. Dazu wirkt die immerhin wahrscheinliche Abtretung eines Theiles von
Nordschleswig uiigünstig auf die Stimmung, wahrend diese freilich im Norden
selbst einen engen Zusammenschluß der Deutschen bewirkt hat. Eine fernere
Uisache antipreußischer Gesinnung, namentlich unter der Landbevölkerung, bilden
in Schleswig-Holstein wie in den anderen neucrworbencir Provinzen die preu¬
ßischen Militärcinrichtunge». Allerdings ist man dieses erste Mal von Seiten
der Militärbehörden mit solcher Rücksicht Verfahren, daß die Aushebung keines¬
wegs die ungünstige Wirkung gehabt hat, die man fürchtete.

Unter diesen Umständen nahen die Parlamentswahlen und geben unserem
Volke eine kaum gehoffte Gelegenheit, seine Meinung über die große» Ver¬
änderungen der letzte» Jahre auszuspreche». Bei der Allgemeinheit der Wahlen
und der geheimen Abgabe der Stimmen wäre es auch bei uns vollständig ver¬
kehrt, mit einiger Sicherheit den Ausfall vorherzusagen. Es kommen ja dabei
Volksclassen in Betracht, welche bis jetzt nie eine Rolle gespielt haben, wie


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/175>, abgerufen am 24.07.2024.