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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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der realen Verhältnisse in Einklang zu bringe". Die Dreiclassenwahl der
Preußen war in der Theorie eine höchst unvollkommene Methode, in der Praxis
hat sich dieselbe im Ganzen vortrefflich bewahrt. Die allgemeine Wahlberech¬
tigung, welche von jetzt in Deutschland gelten soll und welche zu der von 48/49
sich verhält wie ein Orkan aus der See zu sanftem Fahrwind,*) vermag uns in
wenig Jahren eine socialistische Organisation der arbeitenden Classen herzublascn,
welche noch andere Culturen zu beschädigen droht, als die politische. Denn die
Majorität der Land- und Stadtwähler wird in jeder aufgeregten Zeit Kandi¬
daten finden, welche geheime Diäten von ihren Wählern zu erheben wissen,
selbst aus die Gefahr geprügelt zu werden, wenn sie den Wählern Staatshilfe
u. s. w. nicht durchsetzen oder wenn sie in Verdacht kommen, auch vom Bundes¬
kanzler Geld genommen zu haben.

Während noch allgemeine Unsicherheit darüber herrscht, wer in dem Reichs¬
tage die Interessen der Nation vertreten wird, ist ebenso unsicher, worüber diese
Vertreter berathen sollen. Noch ist der Entwurf einer Verfassung des nord¬
deutschen Bundes ein Gegenstand vertraulicher Konferenzen zwischen dem aus¬
wärtigen Amte Preußens und Ministern der Bundesstaaten. Nur tropfenweise
haben officiöse Berichterstatter von dem neuen Trank, der uns kredenzt werden
soll, Proben mitgetheilt. Stellt man das Wenige, was zur Zeit öffentlich be¬
kannt geworden, zusammen, so ergiebt sich ungefähr folgendes: Das Bundes¬
präsidium ist die Krone Preußen, ihr Bundeskanzler -- Gras Bismarck -- leitet
die Geschäfte. Ihm zur Seite steht ein Bundesrath, gebildet durch Delegirte
der Bundesregierungen, deren Stimmenzahl gesetzlich normirt ist. Dieser Bundes¬
rath hat, so scheint es, sowohl die Functionen eines Staatenhauses neben dem
Reichstage, als in seinen permanenten Ausschüssen die Arbeiten der einzelnen
Ministerien unter-dem Bundeskanzler zu versehen. Daneben ein jährlich zu be¬
rufender Reichstag mit dem Recht der Initiative in der Bundesgesetzgebung,
aber nach dem ministeriellen Entwurf mit sehr beschränktem Budgetrecht, da
wenigstens die Ausgaben für das Heerwesen seiner Kompetenz entzogen zu sein
scheinen. Die Einnahmen der Bundeskasse bestehen aus den Zollintraden des
norddeutschen Bundes, "us den Überschüssen der Posten und Telegraphen und
aus den großen, inneren Verbtauchsteuern. Die Ausgaben sind für die Handels¬
interessen im Auslande, außerdem für Heer und Flotte. Zusammen ein ordent¬
liches Budget von mindestens 6S bis 70 Millionen, das aber durch Bau von
Bundeseisenbahnen und extraordinäre Ausgaben für Heer und Flotte beträcht¬
lich gesteigert werden kann.

Da die Heeresstärke auf Eins vom Hundert der Bevölkerung festgesetzt ist



") Damals waren in Leipzig circa "i,000 Wahlberechtigte, in diesem Jahr nach den
Wahllisten circa 19,800, welche nur zu einem Viertel der Vergrößerung der Stadt zuzuschreiben
sind.

der realen Verhältnisse in Einklang zu bringe». Die Dreiclassenwahl der
Preußen war in der Theorie eine höchst unvollkommene Methode, in der Praxis
hat sich dieselbe im Ganzen vortrefflich bewahrt. Die allgemeine Wahlberech¬
tigung, welche von jetzt in Deutschland gelten soll und welche zu der von 48/49
sich verhält wie ein Orkan aus der See zu sanftem Fahrwind,*) vermag uns in
wenig Jahren eine socialistische Organisation der arbeitenden Classen herzublascn,
welche noch andere Culturen zu beschädigen droht, als die politische. Denn die
Majorität der Land- und Stadtwähler wird in jeder aufgeregten Zeit Kandi¬
daten finden, welche geheime Diäten von ihren Wählern zu erheben wissen,
selbst aus die Gefahr geprügelt zu werden, wenn sie den Wählern Staatshilfe
u. s. w. nicht durchsetzen oder wenn sie in Verdacht kommen, auch vom Bundes¬
kanzler Geld genommen zu haben.

Während noch allgemeine Unsicherheit darüber herrscht, wer in dem Reichs¬
tage die Interessen der Nation vertreten wird, ist ebenso unsicher, worüber diese
Vertreter berathen sollen. Noch ist der Entwurf einer Verfassung des nord¬
deutschen Bundes ein Gegenstand vertraulicher Konferenzen zwischen dem aus¬
wärtigen Amte Preußens und Ministern der Bundesstaaten. Nur tropfenweise
haben officiöse Berichterstatter von dem neuen Trank, der uns kredenzt werden
soll, Proben mitgetheilt. Stellt man das Wenige, was zur Zeit öffentlich be¬
kannt geworden, zusammen, so ergiebt sich ungefähr folgendes: Das Bundes¬
präsidium ist die Krone Preußen, ihr Bundeskanzler — Gras Bismarck — leitet
die Geschäfte. Ihm zur Seite steht ein Bundesrath, gebildet durch Delegirte
der Bundesregierungen, deren Stimmenzahl gesetzlich normirt ist. Dieser Bundes¬
rath hat, so scheint es, sowohl die Functionen eines Staatenhauses neben dem
Reichstage, als in seinen permanenten Ausschüssen die Arbeiten der einzelnen
Ministerien unter-dem Bundeskanzler zu versehen. Daneben ein jährlich zu be¬
rufender Reichstag mit dem Recht der Initiative in der Bundesgesetzgebung,
aber nach dem ministeriellen Entwurf mit sehr beschränktem Budgetrecht, da
wenigstens die Ausgaben für das Heerwesen seiner Kompetenz entzogen zu sein
scheinen. Die Einnahmen der Bundeskasse bestehen aus den Zollintraden des
norddeutschen Bundes, «us den Überschüssen der Posten und Telegraphen und
aus den großen, inneren Verbtauchsteuern. Die Ausgaben sind für die Handels¬
interessen im Auslande, außerdem für Heer und Flotte. Zusammen ein ordent¬
liches Budget von mindestens 6S bis 70 Millionen, das aber durch Bau von
Bundeseisenbahnen und extraordinäre Ausgaben für Heer und Flotte beträcht¬
lich gesteigert werden kann.

Da die Heeresstärke auf Eins vom Hundert der Bevölkerung festgesetzt ist



") Damals waren in Leipzig circa «i,000 Wahlberechtigte, in diesem Jahr nach den
Wahllisten circa 19,800, welche nur zu einem Viertel der Vergrößerung der Stadt zuzuschreiben
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/166>, abgerufen am 30.06.2024.