Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.Rußland im Jahre 1866. Von keinem der europäischen Großstaaten ist im Laufe des verflossenen Stellen wir uns an den Ausgang des Jahres 1866, um an der damaligen Rußland im Jahre 1866. Von keinem der europäischen Großstaaten ist im Laufe des verflossenen Stellen wir uns an den Ausgang des Jahres 1866, um an der damaligen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0015" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/190174"/> </div> <div n="1"> <head> Rußland im Jahre 1866.</head><lb/> <p xml:id="ID_17"> Von keinem der europäischen Großstaaten ist im Laufe des verflossenen<lb/> Jahres in der Presse so wenig die Rede gewesen, wie von dem russischen.<lb/> Wochenlang hat die Rubrik „Rußland und Polen" in den verbreitetsten Tage¬<lb/> blättern Deutschlands und Frankreichs leergestanden und die wichtigen Ver¬<lb/> änderungen, welche sich während der Frühlingsmonate des Jahres 1866 auf<lb/> dem Gebiete der inneren Politik dieses Staats vollzogen haben, sind, weil sie<lb/> mit den Wirren vor Ausbruch des deutschen Krieges zusammenfielen, im west¬<lb/> lichen Europa beinahe ganz ignorirt worden. So wunderlich es klingen mag,<lb/> es ist Thatsache, daß man in dem halbbarbarischen Nußland über das west¬<lb/> europäische Leben und dessen Eigenthümlichkeiten wie über die politischen Vor-<lb/> gänge in Deutschland, England und Frankreich beinahe immer besser unterrichtet<lb/> ist, wie umgekehrt. Ob dieser Umstand aus dem bekannten Talent der Slaven<lb/> für die Beobachtung fremder Zustände, oder aus dem höheren Interesse zu er¬<lb/> klären ist, welches die Culturwelt für den hat, der an ihren Gütern nicht direct<lb/> theilnimmt, geht uns hier nichts an: an der Thatsache als solcher nehmen<lb/> wir Veranlassung, dem deutschen Publikum eine zusammenfassende Uebersicht der<lb/> jüngsten Erlebnisse jener merkwürdigen Welt des Ostens vorzulegen, welche sich<lb/> nach Gesehen bewegt, die der westeuropäischen Logik vielleicht noch lange un¬<lb/> verständlich bleiben werden, weil in Nußland — wie ein Landeskundiger ge¬<lb/> legentlich in den Oppenheimschen Jahrbüchern sagte — „zwei mal zwei heute<lb/> gleich fünf, morgen gleich drei, aber niemals gleich vier ist."</p><lb/> <p xml:id="ID_18" next="#ID_19"> Stellen wir uns an den Ausgang des Jahres 1866, um an der damaligen<lb/> Beschaffenheit der inneren Politik Rußlands einen Maßstab für den Umfang<lb/> der seit den letzten zwölf Monaten eingetretenen Veränderungen zu gewinnen,<lb/> so finden wir die seit dem polnischen Aufstande an das Ruder getretene national¬<lb/> demokratische Partei auf dem Zenith ihrer Macht und ihres Einflusses angelangt.<lb/> Die Russisicirung Lithauens und der Ukraine ist in vollem Gange: unter Leitung<lb/> des Führers jener Fraction, die den aristokratisch-polnischen Charakter dieses<lb/> Landes durch Vertheilung des gutsherrlichen Grundeigenthums unter Bauern<lb/> und Knechte in einen bäuerlich-demokratischen zu verwandeln strebt — des Ge¬<lb/> heimraths Nikolaus Miljutin, ist der Generalgouvemeur des wilnaer Militär-<lb/> bezirks General Kaufmann unermüdlich damit beschäftigt, katholische Kirchen<lb/> zu schließen oder in griechisch-russische zu verwandeln, Edelleute und Priester, die<lb/> sich zur Verläugnung der proscribirten polnischen Nationalität nicht entschließen<lb/> können, in das Innere des Reichs oder an die asiatische Grenze zu senden und</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0015]
Rußland im Jahre 1866.
Von keinem der europäischen Großstaaten ist im Laufe des verflossenen
Jahres in der Presse so wenig die Rede gewesen, wie von dem russischen.
Wochenlang hat die Rubrik „Rußland und Polen" in den verbreitetsten Tage¬
blättern Deutschlands und Frankreichs leergestanden und die wichtigen Ver¬
änderungen, welche sich während der Frühlingsmonate des Jahres 1866 auf
dem Gebiete der inneren Politik dieses Staats vollzogen haben, sind, weil sie
mit den Wirren vor Ausbruch des deutschen Krieges zusammenfielen, im west¬
lichen Europa beinahe ganz ignorirt worden. So wunderlich es klingen mag,
es ist Thatsache, daß man in dem halbbarbarischen Nußland über das west¬
europäische Leben und dessen Eigenthümlichkeiten wie über die politischen Vor-
gänge in Deutschland, England und Frankreich beinahe immer besser unterrichtet
ist, wie umgekehrt. Ob dieser Umstand aus dem bekannten Talent der Slaven
für die Beobachtung fremder Zustände, oder aus dem höheren Interesse zu er¬
klären ist, welches die Culturwelt für den hat, der an ihren Gütern nicht direct
theilnimmt, geht uns hier nichts an: an der Thatsache als solcher nehmen
wir Veranlassung, dem deutschen Publikum eine zusammenfassende Uebersicht der
jüngsten Erlebnisse jener merkwürdigen Welt des Ostens vorzulegen, welche sich
nach Gesehen bewegt, die der westeuropäischen Logik vielleicht noch lange un¬
verständlich bleiben werden, weil in Nußland — wie ein Landeskundiger ge¬
legentlich in den Oppenheimschen Jahrbüchern sagte — „zwei mal zwei heute
gleich fünf, morgen gleich drei, aber niemals gleich vier ist."
Stellen wir uns an den Ausgang des Jahres 1866, um an der damaligen
Beschaffenheit der inneren Politik Rußlands einen Maßstab für den Umfang
der seit den letzten zwölf Monaten eingetretenen Veränderungen zu gewinnen,
so finden wir die seit dem polnischen Aufstande an das Ruder getretene national¬
demokratische Partei auf dem Zenith ihrer Macht und ihres Einflusses angelangt.
Die Russisicirung Lithauens und der Ukraine ist in vollem Gange: unter Leitung
des Führers jener Fraction, die den aristokratisch-polnischen Charakter dieses
Landes durch Vertheilung des gutsherrlichen Grundeigenthums unter Bauern
und Knechte in einen bäuerlich-demokratischen zu verwandeln strebt — des Ge¬
heimraths Nikolaus Miljutin, ist der Generalgouvemeur des wilnaer Militär-
bezirks General Kaufmann unermüdlich damit beschäftigt, katholische Kirchen
zu schließen oder in griechisch-russische zu verwandeln, Edelleute und Priester, die
sich zur Verläugnung der proscribirten polnischen Nationalität nicht entschließen
können, in das Innere des Reichs oder an die asiatische Grenze zu senden und
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |