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Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band.

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vertreib verurtheilt war. während bloße Provinzler, in den Augen des echten
alten Wieners untergeordnete Kreaturen, das große Wort im Reichstage führten.
Es mag conservativer scheinen, daß man auch nach dem Sturze des Absolutis¬
mus 1859 nicht an die achtundvierziger Vorgänge anknüpfte, es mag dem
Organisationstalente der östreichischen Staatsmänner schmeicheln, daß jeder neue
Verfassungsentwurf von der früheren Gestaltung des Landes absieht: in der
Thatsache, daß der kremsierer Verfassungsentwurf ganz vergessen werden konnte,
sehen wir nur den Beweis, daß das östreichische Gemeingefühl an Stärke ver¬
loren hat. Für den kremsierer Berfassungsenlwurf stand die entschiedene Majo¬
rität der östreichischen Völker ein, für die Verfassungspläne, die in den letzten
Jahren auftauchte", können immer nur Minoritäten gewonnen werden.

Zu den trefflichen statistischen Tabellen, welche Ficker vor vier Jahren
(Bevölkerung der östreichischen Monarchie, Gotha, Perthes) herausgegeben hat,
fehlt eigentlich ein Supplemenlheft. welches die Verbreitung der centralistischen,
dualistischen und föderalistischen Politik graphisch darstellte. Die schwersten Be¬
denken gegen die Durchführung irgendeines der letzthin gepriesenen Verfassungs¬
pläne würden dann erwachen. Der Centralisation, wie sie das Februarpatent
verkündigt, sind nur die Deutschen und Ruthenen, bedingungsweise vielleicht
auch die Rumänen in Siebenbürgen zugethan, also höchstens 39 Procent der
Gesammtbevölkerung; 63 Procent (Magyaren und Slawen) stehen in leiden¬
schaftlicher Opposition. Der Dualismus, die Trennung Oestreichs in zwei
Hälften, in deren jeder wieder die Centralisation herrschte, kann wieder nur auf
die Stimme der Magyaren und eines Bruchtheils der Deutschen, etwa 25 Pro-
cent rechnen, gegen den Föderalismus endlich würden sich die Deutschen,
Magyaren. Ruthenen einmüthig erheben, also würde nahezu die Hälfte der
Bevölkerung, wobei das Gewicht Wiens, der Einfluß des ungarischen Adels
und die Traditionen des Hofes, die durchweg antislawisch sind, noch auf die
Wagschale gelegt werden müssen. Diese Schwierigkeiten werben in tonangeben¬
den Kreisen keineswegs übersehen. Eben weil kein Verfassungsprincip sich in
Oestreich rein verkörpern läßt, weil es auf das Balanciren der verschiedenen
Systeme vorzugsweise ankommt, konnte nicht der gewöhnliche Weg eingeschlagen,
mußte das außerordentliche Ziel auch durch außerordentliche Mittel erreicht wer¬
den. Zu den letzteren rechnet man denn die Berufung des Herrn v. Beust aus
dem sächsischen in den östreichischen Staatsdienst.

Oestreichische Journale ließen sich duich ihre Abneigung gegen alles Fremde
zu der Frage verleiten: Was will Herr v. Beust von Oestreich? und waren
indiscret genug, auch Verhältnisse zu berühren, welche die heiligsten Privat-
gefühle des Herrn v. Beust verletzen mußten. Wir begnügen uns zu fragen:
Was soll Herr v. Beust in Oestreich? Daß wir das Porträt, welches officiöse
Blätter von dem Vielgewandten. Vielduldenden entwarfen: Herr v.Beust in weißem


Grenzboten I. 1,867. 16

vertreib verurtheilt war. während bloße Provinzler, in den Augen des echten
alten Wieners untergeordnete Kreaturen, das große Wort im Reichstage führten.
Es mag conservativer scheinen, daß man auch nach dem Sturze des Absolutis¬
mus 1859 nicht an die achtundvierziger Vorgänge anknüpfte, es mag dem
Organisationstalente der östreichischen Staatsmänner schmeicheln, daß jeder neue
Verfassungsentwurf von der früheren Gestaltung des Landes absieht: in der
Thatsache, daß der kremsierer Verfassungsentwurf ganz vergessen werden konnte,
sehen wir nur den Beweis, daß das östreichische Gemeingefühl an Stärke ver¬
loren hat. Für den kremsierer Berfassungsenlwurf stand die entschiedene Majo¬
rität der östreichischen Völker ein, für die Verfassungspläne, die in den letzten
Jahren auftauchte», können immer nur Minoritäten gewonnen werden.

Zu den trefflichen statistischen Tabellen, welche Ficker vor vier Jahren
(Bevölkerung der östreichischen Monarchie, Gotha, Perthes) herausgegeben hat,
fehlt eigentlich ein Supplemenlheft. welches die Verbreitung der centralistischen,
dualistischen und föderalistischen Politik graphisch darstellte. Die schwersten Be¬
denken gegen die Durchführung irgendeines der letzthin gepriesenen Verfassungs¬
pläne würden dann erwachen. Der Centralisation, wie sie das Februarpatent
verkündigt, sind nur die Deutschen und Ruthenen, bedingungsweise vielleicht
auch die Rumänen in Siebenbürgen zugethan, also höchstens 39 Procent der
Gesammtbevölkerung; 63 Procent (Magyaren und Slawen) stehen in leiden¬
schaftlicher Opposition. Der Dualismus, die Trennung Oestreichs in zwei
Hälften, in deren jeder wieder die Centralisation herrschte, kann wieder nur auf
die Stimme der Magyaren und eines Bruchtheils der Deutschen, etwa 25 Pro-
cent rechnen, gegen den Föderalismus endlich würden sich die Deutschen,
Magyaren. Ruthenen einmüthig erheben, also würde nahezu die Hälfte der
Bevölkerung, wobei das Gewicht Wiens, der Einfluß des ungarischen Adels
und die Traditionen des Hofes, die durchweg antislawisch sind, noch auf die
Wagschale gelegt werden müssen. Diese Schwierigkeiten werben in tonangeben¬
den Kreisen keineswegs übersehen. Eben weil kein Verfassungsprincip sich in
Oestreich rein verkörpern läßt, weil es auf das Balanciren der verschiedenen
Systeme vorzugsweise ankommt, konnte nicht der gewöhnliche Weg eingeschlagen,
mußte das außerordentliche Ziel auch durch außerordentliche Mittel erreicht wer¬
den. Zu den letzteren rechnet man denn die Berufung des Herrn v. Beust aus
dem sächsischen in den östreichischen Staatsdienst.

Oestreichische Journale ließen sich duich ihre Abneigung gegen alles Fremde
zu der Frage verleiten: Was will Herr v. Beust von Oestreich? und waren
indiscret genug, auch Verhältnisse zu berühren, welche die heiligsten Privat-
gefühle des Herrn v. Beust verletzen mußten. Wir begnügen uns zu fragen:
Was soll Herr v. Beust in Oestreich? Daß wir das Porträt, welches officiöse
Blätter von dem Vielgewandten. Vielduldenden entwarfen: Herr v.Beust in weißem


Grenzboten I. 1,867. 16
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[0123] vertreib verurtheilt war. während bloße Provinzler, in den Augen des echten alten Wieners untergeordnete Kreaturen, das große Wort im Reichstage führten. Es mag conservativer scheinen, daß man auch nach dem Sturze des Absolutis¬ mus 1859 nicht an die achtundvierziger Vorgänge anknüpfte, es mag dem Organisationstalente der östreichischen Staatsmänner schmeicheln, daß jeder neue Verfassungsentwurf von der früheren Gestaltung des Landes absieht: in der Thatsache, daß der kremsierer Verfassungsentwurf ganz vergessen werden konnte, sehen wir nur den Beweis, daß das östreichische Gemeingefühl an Stärke ver¬ loren hat. Für den kremsierer Berfassungsenlwurf stand die entschiedene Majo¬ rität der östreichischen Völker ein, für die Verfassungspläne, die in den letzten Jahren auftauchte», können immer nur Minoritäten gewonnen werden. Zu den trefflichen statistischen Tabellen, welche Ficker vor vier Jahren (Bevölkerung der östreichischen Monarchie, Gotha, Perthes) herausgegeben hat, fehlt eigentlich ein Supplemenlheft. welches die Verbreitung der centralistischen, dualistischen und föderalistischen Politik graphisch darstellte. Die schwersten Be¬ denken gegen die Durchführung irgendeines der letzthin gepriesenen Verfassungs¬ pläne würden dann erwachen. Der Centralisation, wie sie das Februarpatent verkündigt, sind nur die Deutschen und Ruthenen, bedingungsweise vielleicht auch die Rumänen in Siebenbürgen zugethan, also höchstens 39 Procent der Gesammtbevölkerung; 63 Procent (Magyaren und Slawen) stehen in leiden¬ schaftlicher Opposition. Der Dualismus, die Trennung Oestreichs in zwei Hälften, in deren jeder wieder die Centralisation herrschte, kann wieder nur auf die Stimme der Magyaren und eines Bruchtheils der Deutschen, etwa 25 Pro- cent rechnen, gegen den Föderalismus endlich würden sich die Deutschen, Magyaren. Ruthenen einmüthig erheben, also würde nahezu die Hälfte der Bevölkerung, wobei das Gewicht Wiens, der Einfluß des ungarischen Adels und die Traditionen des Hofes, die durchweg antislawisch sind, noch auf die Wagschale gelegt werden müssen. Diese Schwierigkeiten werben in tonangeben¬ den Kreisen keineswegs übersehen. Eben weil kein Verfassungsprincip sich in Oestreich rein verkörpern läßt, weil es auf das Balanciren der verschiedenen Systeme vorzugsweise ankommt, konnte nicht der gewöhnliche Weg eingeschlagen, mußte das außerordentliche Ziel auch durch außerordentliche Mittel erreicht wer¬ den. Zu den letzteren rechnet man denn die Berufung des Herrn v. Beust aus dem sächsischen in den östreichischen Staatsdienst. Oestreichische Journale ließen sich duich ihre Abneigung gegen alles Fremde zu der Frage verleiten: Was will Herr v. Beust von Oestreich? und waren indiscret genug, auch Verhältnisse zu berühren, welche die heiligsten Privat- gefühle des Herrn v. Beust verletzen mußten. Wir begnügen uns zu fragen: Was soll Herr v. Beust in Oestreich? Daß wir das Porträt, welches officiöse Blätter von dem Vielgewandten. Vielduldenden entwarfen: Herr v.Beust in weißem Grenzboten I. 1,867. 16

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 26, 1867, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341805_190158/123>, abgerufen am 28.09.2024.