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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Ereignisse, die den Märztagen gefolgt waren, hatten schon zur Genüge gezeigt,
daß die Schaffung einer einheitlichen Reichsgewalt, eines Kerns, an welchen sich
die neue Organisation anschließen könnte, dringend nothwendig sei und die Be¬
trachtung der deutschen Verhältnisse hätte, wie man denkt, darauf hinführen
müssen, diesen schwersten Theil des Verfassungswerks unter Benutzung der gün¬
stigen Zeitumstände sofort zuerst in Angriff zu nehmen. Allein es wirkten
andere Rücksichten auf die Versammlung bestimmend ein. Die großen Erwar¬
tungen, welche das Volk auf das Parlament setzte, mußten in gemeinverständ¬
licher Weise bald bethätigt werden. Die Versammlung, die ihren Halt und
Stützpunkt im Volke, aus dem sie hervorgegangen, fand und bei den Regie¬
rungen keiner nachhaltigen Förderung begegnete, konnte nicht die durchgreifende
Energie besitzen, die ein Staatsmann an der Spitze eines machtvollen Staats
anzuwenden vermag. So kam man auch, durch die Vorbilder von Frankreich
und Nordamerika bestimmt, zu dem Entschluß, die freiheitlichen Forderungen des
Volkes zuerst endgiltig festzustellen und zog das populärere Wesen der politischen
Freiheit der politischen Einheit vor, die doch der Nation als höchstes Ziel
vorgeschwebt hatte.

Das war die Entstehung der deutschen Grundrechte.

Mit seltener Hingebung wurde an den deutschen Menschenrechten gearbeitet.
Die Leistungen blieben hinter den Erwartungen nicht zurück. Der Gewinn
langer politischer Kämpfe und die Frucht umfassender Studien über Staat und
Staatseinrichtungen wurden zu einem Ganzen verbunden, das den Namen eines
vernünftigen freisinnigen Programms für eine innere Politik mit Recht in An¬
spruch nehmen konnte. Aber freilich gingen über dem Zustandekommen des
Werks Monate hin und die Ereignisse warteten nicht. Die Abschlagszahlung,
welche man der Vorliebe des Volkes für freiheitliche Fragen leistete, kostete, das
ist nicht zu viel gesagt, das Gelingen des ganzen Werks und mit diesem selbst
ging auch wieder zu Grunde, was die bürgerliche Freiheit in Deutschland für
alle Zeiten hatte befestigen sollen.. Die Grundrechte wurden mit der übrigen
Reichsverfassung für die Einen eine Ausgeburt gefährlichster demokratischer Grund¬
sätze und Ideen, für die Anderen das Ideal gemeinsinniger Wünsche und Hoff¬
nungen; sie verschwanden aus dem politischen Leben der Nation und erlangten
allmälig in den Augen der großen Menge des Volkes den Glorienschein halb
mythischer Erinnerungen, die gefährlicher als politische Vorurtheile wirken, weil
sie unbestimmte Gefühle an die Stelle ruhiger Erwägung der thatsächlichen Ver¬
hältnisse treten lassen.

Betrachten wir aber zunächst den Inhalt der Grundrechte, ehe wir an der
Hand der Ereignisse ihren Werth für die Jetztzeit untersuchen. Es wird sich
dabei empfehlen. ihre Bestimmungen in der vom Gesetz eingehaltenen Reihen¬
folge zu geben, da die einzelnen Sätze keiner Erläuterung bedürfen, und die


Ereignisse, die den Märztagen gefolgt waren, hatten schon zur Genüge gezeigt,
daß die Schaffung einer einheitlichen Reichsgewalt, eines Kerns, an welchen sich
die neue Organisation anschließen könnte, dringend nothwendig sei und die Be¬
trachtung der deutschen Verhältnisse hätte, wie man denkt, darauf hinführen
müssen, diesen schwersten Theil des Verfassungswerks unter Benutzung der gün¬
stigen Zeitumstände sofort zuerst in Angriff zu nehmen. Allein es wirkten
andere Rücksichten auf die Versammlung bestimmend ein. Die großen Erwar¬
tungen, welche das Volk auf das Parlament setzte, mußten in gemeinverständ¬
licher Weise bald bethätigt werden. Die Versammlung, die ihren Halt und
Stützpunkt im Volke, aus dem sie hervorgegangen, fand und bei den Regie¬
rungen keiner nachhaltigen Förderung begegnete, konnte nicht die durchgreifende
Energie besitzen, die ein Staatsmann an der Spitze eines machtvollen Staats
anzuwenden vermag. So kam man auch, durch die Vorbilder von Frankreich
und Nordamerika bestimmt, zu dem Entschluß, die freiheitlichen Forderungen des
Volkes zuerst endgiltig festzustellen und zog das populärere Wesen der politischen
Freiheit der politischen Einheit vor, die doch der Nation als höchstes Ziel
vorgeschwebt hatte.

Das war die Entstehung der deutschen Grundrechte.

Mit seltener Hingebung wurde an den deutschen Menschenrechten gearbeitet.
Die Leistungen blieben hinter den Erwartungen nicht zurück. Der Gewinn
langer politischer Kämpfe und die Frucht umfassender Studien über Staat und
Staatseinrichtungen wurden zu einem Ganzen verbunden, das den Namen eines
vernünftigen freisinnigen Programms für eine innere Politik mit Recht in An¬
spruch nehmen konnte. Aber freilich gingen über dem Zustandekommen des
Werks Monate hin und die Ereignisse warteten nicht. Die Abschlagszahlung,
welche man der Vorliebe des Volkes für freiheitliche Fragen leistete, kostete, das
ist nicht zu viel gesagt, das Gelingen des ganzen Werks und mit diesem selbst
ging auch wieder zu Grunde, was die bürgerliche Freiheit in Deutschland für
alle Zeiten hatte befestigen sollen.. Die Grundrechte wurden mit der übrigen
Reichsverfassung für die Einen eine Ausgeburt gefährlichster demokratischer Grund¬
sätze und Ideen, für die Anderen das Ideal gemeinsinniger Wünsche und Hoff¬
nungen; sie verschwanden aus dem politischen Leben der Nation und erlangten
allmälig in den Augen der großen Menge des Volkes den Glorienschein halb
mythischer Erinnerungen, die gefährlicher als politische Vorurtheile wirken, weil
sie unbestimmte Gefühle an die Stelle ruhiger Erwägung der thatsächlichen Ver¬
hältnisse treten lassen.

Betrachten wir aber zunächst den Inhalt der Grundrechte, ehe wir an der
Hand der Ereignisse ihren Werth für die Jetztzeit untersuchen. Es wird sich
dabei empfehlen. ihre Bestimmungen in der vom Gesetz eingehaltenen Reihen¬
folge zu geben, da die einzelnen Sätze keiner Erläuterung bedürfen, und die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/81>, abgerufen am 02.07.2024.