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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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nicht jene der Musik, und nun entpuppte sich vor ihm ein zünftiger Philologe!
"Entschuldigen Sie." brach er endlich das Schweigen, "ich habe mich wohl ge¬
irrt." Dabei blickte er im Kreise forschend herum, um den andern, den musi¬
kalischen Jahr zu entdecken. Vielleicht glaubt er noch bis zu dieser Stunde an
einen doppelten Otto Jahr und genießt dabei die Beruhigung, daß noch manche
mit ihm den Irrthum theilen, denn Jahr hat stets sorgfältig die verschiedenen
Seiten seines Wirkens auseinandergehalten, immer Talar und leicht ge¬
schürzten Rock gesondert gelegt. Er ist berechtigt, ja verpflichtet zu solcher
Scheidung und dennoch glauben wir nicht zu irren, wenn wir in dem Umstände,
daß Otto Jahr gleichmäßig über die Gelehrsamkeit vom schwersten Kaliber, über
die strengste wissenschaftliche Zucht seines Geistes und über die feinste Kunst¬
bildung, die reiche Empfänglichkeit für weite Interessen gebietet, des Mannes
eigenthümliche Bedeutung erkennen, aus der Bereinigung gewöhnlich disparater
Eigenschaften den Hauptreiz seiner Schriften erklären. Es gehört nicht hierher,
Zahns Stellung in der Alterthumswissenschaft zu schildern. Daß er aber mit
gleichem Eifer, mit derselben Liebe Philologie und Kunstgeschichte treibt, ist nicht
dem bloßen Zufall zuzuschreiben. Für ihm klebt an der Kunstbetrachtung ein
häßlicher Dilettantenzug, wenn sie sich nicht auf ein gründliches philologisches
Studium stützt, ihm dünkt aber auch die blos formelle Behandlung der alten
Autoren unzureichend, um die Antike voll zu erfassen. Ihm ist die Antike eine
Welt der tiefsten Gedanken und der schönsten Formen, er trennt aber nicht die
einen von den anderen; dort vernimmt er auch den Flügelschlag einer idealen
Phantasie, hier vergißt er nicht auf die verständige, gesetzmäßige Entwickelung
zu merken. Zahns Verdienste als Biograph und musikalischer Schriftsteller ent¬
stammen dem gleichen Grunde.

Das "Leben Mozarts" ist nicht allein durch seinen Inhalt bedeutsam, son¬
dern auch durch seine Schicksale für uns anziehend geworden. Ein muster-
giltiges Buch, dessen Einfluß sich niemand entziehen kann, der in diesem Kreise
der Literatur arbeitet, und welches bereits der Nachbildungen und Nachäffungen
gar viele anführen kann, hat uns Jahr in seinem Mozart geliefert, gleichzeitig
aber auch ein überall gern gelesenes, in den weitesten Kreisen gekanntes und
geschätztes Buch. Und doch hat der Verfasser dem Leser keineswegs leicht gemacht,
zum Kern des Werkes durchzudringen. Diesen schreckt schon der stattliche Um¬
fang der Biographie ab, ihn verblüfft die an ihn gestellte Forderung, einzu¬
dringen in die Geheimnisse der musikalischen Composition und an der Hand des
Verfassers die genaueste Analyse der einzelnen Musikstücke Vorzunehmen. Was
läßt nun den Leser diese Schwierigkeiten überwinden und macht ihn geneigt,
der Schilderung eines Musikkünstlers die gleiche intensive Aufmerksamkeit zuzu¬
wenden, die er sonst nur einem Dichter entgegenträgt? Ihn begleitet während
der'Lectüre durchweg das wohlthuende Gefühl der Sicherheit. Von jedem


nicht jene der Musik, und nun entpuppte sich vor ihm ein zünftiger Philologe!
„Entschuldigen Sie." brach er endlich das Schweigen, „ich habe mich wohl ge¬
irrt." Dabei blickte er im Kreise forschend herum, um den andern, den musi¬
kalischen Jahr zu entdecken. Vielleicht glaubt er noch bis zu dieser Stunde an
einen doppelten Otto Jahr und genießt dabei die Beruhigung, daß noch manche
mit ihm den Irrthum theilen, denn Jahr hat stets sorgfältig die verschiedenen
Seiten seines Wirkens auseinandergehalten, immer Talar und leicht ge¬
schürzten Rock gesondert gelegt. Er ist berechtigt, ja verpflichtet zu solcher
Scheidung und dennoch glauben wir nicht zu irren, wenn wir in dem Umstände,
daß Otto Jahr gleichmäßig über die Gelehrsamkeit vom schwersten Kaliber, über
die strengste wissenschaftliche Zucht seines Geistes und über die feinste Kunst¬
bildung, die reiche Empfänglichkeit für weite Interessen gebietet, des Mannes
eigenthümliche Bedeutung erkennen, aus der Bereinigung gewöhnlich disparater
Eigenschaften den Hauptreiz seiner Schriften erklären. Es gehört nicht hierher,
Zahns Stellung in der Alterthumswissenschaft zu schildern. Daß er aber mit
gleichem Eifer, mit derselben Liebe Philologie und Kunstgeschichte treibt, ist nicht
dem bloßen Zufall zuzuschreiben. Für ihm klebt an der Kunstbetrachtung ein
häßlicher Dilettantenzug, wenn sie sich nicht auf ein gründliches philologisches
Studium stützt, ihm dünkt aber auch die blos formelle Behandlung der alten
Autoren unzureichend, um die Antike voll zu erfassen. Ihm ist die Antike eine
Welt der tiefsten Gedanken und der schönsten Formen, er trennt aber nicht die
einen von den anderen; dort vernimmt er auch den Flügelschlag einer idealen
Phantasie, hier vergißt er nicht auf die verständige, gesetzmäßige Entwickelung
zu merken. Zahns Verdienste als Biograph und musikalischer Schriftsteller ent¬
stammen dem gleichen Grunde.

Das „Leben Mozarts" ist nicht allein durch seinen Inhalt bedeutsam, son¬
dern auch durch seine Schicksale für uns anziehend geworden. Ein muster-
giltiges Buch, dessen Einfluß sich niemand entziehen kann, der in diesem Kreise
der Literatur arbeitet, und welches bereits der Nachbildungen und Nachäffungen
gar viele anführen kann, hat uns Jahr in seinem Mozart geliefert, gleichzeitig
aber auch ein überall gern gelesenes, in den weitesten Kreisen gekanntes und
geschätztes Buch. Und doch hat der Verfasser dem Leser keineswegs leicht gemacht,
zum Kern des Werkes durchzudringen. Diesen schreckt schon der stattliche Um¬
fang der Biographie ab, ihn verblüfft die an ihn gestellte Forderung, einzu¬
dringen in die Geheimnisse der musikalischen Composition und an der Hand des
Verfassers die genaueste Analyse der einzelnen Musikstücke Vorzunehmen. Was
läßt nun den Leser diese Schwierigkeiten überwinden und macht ihn geneigt,
der Schilderung eines Musikkünstlers die gleiche intensive Aufmerksamkeit zuzu¬
wenden, die er sonst nur einem Dichter entgegenträgt? Ihn begleitet während
der'Lectüre durchweg das wohlthuende Gefühl der Sicherheit. Von jedem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/543>, abgerufen am 30.06.2024.