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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Mecklenburg vor den Parlamentswahlen.

Die mecklenburgische Verfassung ist selbst dem Minimum berechtigter An¬
forderungen so wenig entsprechend, alle Einrichtungen sind so veraltet und dem
Gedeihen hinderlich, die Zustände nach allen Richtungen hin so über jedes Maß
kläglich, daß man denken sollte, darüber wäre nur eine Stimme möglich, daß das
Land der Obotriten bei jeder politischen Umgestaltung Deutschlands nur ge¬
winnen könne. Die Vertretung theils durch ererbten oder käuflich erworbenen
Grundbesitz, theils durch ein obrigkeitliches von großherzoglicher Verleihung oder
Bestätigung abhängiges Amt bestimmt, mehr als zwei Fünftheile der Bevölke¬
rung überhaupt ohne Vertretung, keine Staatskasse, kein Staatsbudget, keine
ständische Controle von Staatseinnahmen und -Ausgaben, die Steuern irrationell,
ungleich vertheilt und überaus drückend, dazu die Patrimonialgerichtsbarkeit, die
während der ersten zehn Jahre ihrer Amtsführung auf Kündigung stehenden
Patrimonialrichter, die von den Gutsherren auf Kündigung angestellten Schul¬
lehrer, zur Hälfte mit geringeren Einkünften als ein Tagelöhner, das Staats¬
kirchenregiment, der feudale und der büreaukratische Despotismus im Polizei¬
wesen und in der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten, die vollendetste
politische und wirthschaftliche Unfreiheit, die übermäßige Zahl unehelicher Ge¬
burten (1 uneheliches Kind auf 3V" eheliche), das ungerechte Conscriptions-
sysiem -- alle diese und viele andere Züge gleicher Art vereinigen sich zu einem
poliiischen Nachtstück, welches in Deutschland schwerlich irgendwo seines Gleichen
hat. Und wenn die Mißgestalt dieser Einrichtungen und Zustände vor dem
Jahre 1848 durch eine gewisse Humanität des patriarchalis.chen Regiments zwar
nicht ausgeglichen wurde, aber doch in einem etwas milderen Lichte erschien, so
hat die seit der Restauration im Jahre 1830 die Herrschaft führende Partei
dafür gesorgt, daß auch diese Hülle jetzt verschwunden ist und der nackteste
Absolutismus an höchster Stelle strahlt. Nur an zwei Begebenheiten aus neuester
Zeit möge hier, zum Beweise dessen, erinnert sein.


Grenzboten IV. 186ö. 61
Mecklenburg vor den Parlamentswahlen.

Die mecklenburgische Verfassung ist selbst dem Minimum berechtigter An¬
forderungen so wenig entsprechend, alle Einrichtungen sind so veraltet und dem
Gedeihen hinderlich, die Zustände nach allen Richtungen hin so über jedes Maß
kläglich, daß man denken sollte, darüber wäre nur eine Stimme möglich, daß das
Land der Obotriten bei jeder politischen Umgestaltung Deutschlands nur ge¬
winnen könne. Die Vertretung theils durch ererbten oder käuflich erworbenen
Grundbesitz, theils durch ein obrigkeitliches von großherzoglicher Verleihung oder
Bestätigung abhängiges Amt bestimmt, mehr als zwei Fünftheile der Bevölke¬
rung überhaupt ohne Vertretung, keine Staatskasse, kein Staatsbudget, keine
ständische Controle von Staatseinnahmen und -Ausgaben, die Steuern irrationell,
ungleich vertheilt und überaus drückend, dazu die Patrimonialgerichtsbarkeit, die
während der ersten zehn Jahre ihrer Amtsführung auf Kündigung stehenden
Patrimonialrichter, die von den Gutsherren auf Kündigung angestellten Schul¬
lehrer, zur Hälfte mit geringeren Einkünften als ein Tagelöhner, das Staats¬
kirchenregiment, der feudale und der büreaukratische Despotismus im Polizei¬
wesen und in der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten, die vollendetste
politische und wirthschaftliche Unfreiheit, die übermäßige Zahl unehelicher Ge¬
burten (1 uneheliches Kind auf 3V» eheliche), das ungerechte Conscriptions-
sysiem — alle diese und viele andere Züge gleicher Art vereinigen sich zu einem
poliiischen Nachtstück, welches in Deutschland schwerlich irgendwo seines Gleichen
hat. Und wenn die Mißgestalt dieser Einrichtungen und Zustände vor dem
Jahre 1848 durch eine gewisse Humanität des patriarchalis.chen Regiments zwar
nicht ausgeglichen wurde, aber doch in einem etwas milderen Lichte erschien, so
hat die seit der Restauration im Jahre 1830 die Herrschaft führende Partei
dafür gesorgt, daß auch diese Hülle jetzt verschwunden ist und der nackteste
Absolutismus an höchster Stelle strahlt. Nur an zwei Begebenheiten aus neuester
Zeit möge hier, zum Beweise dessen, erinnert sein.


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[0515] Mecklenburg vor den Parlamentswahlen. Die mecklenburgische Verfassung ist selbst dem Minimum berechtigter An¬ forderungen so wenig entsprechend, alle Einrichtungen sind so veraltet und dem Gedeihen hinderlich, die Zustände nach allen Richtungen hin so über jedes Maß kläglich, daß man denken sollte, darüber wäre nur eine Stimme möglich, daß das Land der Obotriten bei jeder politischen Umgestaltung Deutschlands nur ge¬ winnen könne. Die Vertretung theils durch ererbten oder käuflich erworbenen Grundbesitz, theils durch ein obrigkeitliches von großherzoglicher Verleihung oder Bestätigung abhängiges Amt bestimmt, mehr als zwei Fünftheile der Bevölke¬ rung überhaupt ohne Vertretung, keine Staatskasse, kein Staatsbudget, keine ständische Controle von Staatseinnahmen und -Ausgaben, die Steuern irrationell, ungleich vertheilt und überaus drückend, dazu die Patrimonialgerichtsbarkeit, die während der ersten zehn Jahre ihrer Amtsführung auf Kündigung stehenden Patrimonialrichter, die von den Gutsherren auf Kündigung angestellten Schul¬ lehrer, zur Hälfte mit geringeren Einkünften als ein Tagelöhner, das Staats¬ kirchenregiment, der feudale und der büreaukratische Despotismus im Polizei¬ wesen und in der Verwaltung der Gemeindeangelegenheiten, die vollendetste politische und wirthschaftliche Unfreiheit, die übermäßige Zahl unehelicher Ge¬ burten (1 uneheliches Kind auf 3V» eheliche), das ungerechte Conscriptions- sysiem — alle diese und viele andere Züge gleicher Art vereinigen sich zu einem poliiischen Nachtstück, welches in Deutschland schwerlich irgendwo seines Gleichen hat. Und wenn die Mißgestalt dieser Einrichtungen und Zustände vor dem Jahre 1848 durch eine gewisse Humanität des patriarchalis.chen Regiments zwar nicht ausgeglichen wurde, aber doch in einem etwas milderen Lichte erschien, so hat die seit der Restauration im Jahre 1830 die Herrschaft führende Partei dafür gesorgt, daß auch diese Hülle jetzt verschwunden ist und der nackteste Absolutismus an höchster Stelle strahlt. Nur an zwei Begebenheiten aus neuester Zeit möge hier, zum Beweise dessen, erinnert sein. Grenzboten IV. 186ö. 61

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/515>, abgerufen am 26.06.2024.