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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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machen. Schon lange stehen die Fragen der Heeresorganisation, der Ver¬
fassungsreform, der Vereinfachung der Verwaltung, der Justizreform auf der
Tagesordnung. An Vorschlägen, Entwürfen, Verheißungen hat es nicht gefehlt.
Jetzt aber scheint der Moment gekommen, wo keinerlei Rücksichten mehr die
Verschiebung dieser Aufgaben rechtfertigen können. Was zunächst die Armee-
reform betrifft, so verlautet "bis jetzt so viel, daß man mit Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht, mit Einführung irgendeines Hinterladungsgewehres
(das, wie überall die Phrase lautet, "die Mängel des preußischen beseitigen" soll)
beschäftigt ist, und daß die neuen Einrichtungen möglichst in Uebereinstimmung
mit Bayern getroffen werden sollen. Ein Entwurf zur Einführung der all"
gemeinen Wehrpflicht ist auch bereits ausgearbeitet. Aber es haben sich nach¬
träglich Bedenken gegen ein rasches Vorgehen erhoben. Die Sache, hieß es,
greise zu tief in alle Verhältnisse ein, man möge vorher noch eine genauere
Prüfung der verschiedenen Systeme anstellen u. s. w. Vermag man nicht schlüssig
zu werden, so soll dem nächsten Landtag wenigstens ein Gesetz über Aufhebung
der Stellvertretung als eine Abschlagszahlung vorgelegt werden. Dies zur
Charakterisirung des Tempo, in welchem die dringendsten Reformen sich bewegen.
Weiterhin hat die Negierung den Kammern den Entwurf einer neuen Gerichts¬
verfassung, und neuerdings der Oeffentlichkeit die Grundzüge einer neuen Or¬
ganisation der Verwaltung vorgelegt. Aber beide Entwürfe haben die offene- ^
liebe Meinung wenig befriedigt. Diese dringt hauptsächlich auf Vereinfachung
des öffentlichen Dienstes, wie sie dem kleinen Gemeinwesen entspricht, das des
großstaatlichen prätentiösen Apparates sich endlich entschlagen soll, und grade in
dieser Beziehung lassen sie viel zu wünschen übrig. Noch mehr verstimmt es,
daß diese secundären Arbeiten zuvor erledigt sein sollen, bevor Hand an die
Verfassung selbst gelegt wird, während umgekehrt nach der allgemeinen Stimme
die Reform bei der Wurzel hätte beginnen sollen. In der That ist an durch¬
greifende Besserungen gar nicht zu denken, ehe unsere mittelalterliche Stände-
Versammlung von ihren Adels- und Ständepriviiegien gereinigt und vor allem
die zweite Kammer zu einer wirklichen Vertretung des Volkes umgestaltet ist.
Es taucht deshalb der Gedanke auf, zu einer verfassungsrevibirenden Versamm¬
lung nach dem Gesetz vom 1. Juli 1849 als zu einem Rechte zurückzugreifen,
das nach dreimal gescheiterten Versuch willkürlich von der Reaction zurück¬
genommen worden ist. Es ist die Rede davon, eine allgemeine Agitation zur
Zurücksorderung dieses Rechts einzuleiten, wobei freilich zweifelhaft bleibt, ob
dieselbe den gewünschten Anklang und Nachdruck im Volke findet. Denn bis
jetzt wenigstens verhält sich die öffentliche Meinung ziemlich lau zu diesen inneren
Angelegenheiten; es ist, als ob sie es kaum der Mühe werth fände, an den
Formen des Particularstaats herumzuflicken, und auch dies ist bezeichnend in


Grenzboten IV. 18os. 68

machen. Schon lange stehen die Fragen der Heeresorganisation, der Ver¬
fassungsreform, der Vereinfachung der Verwaltung, der Justizreform auf der
Tagesordnung. An Vorschlägen, Entwürfen, Verheißungen hat es nicht gefehlt.
Jetzt aber scheint der Moment gekommen, wo keinerlei Rücksichten mehr die
Verschiebung dieser Aufgaben rechtfertigen können. Was zunächst die Armee-
reform betrifft, so verlautet "bis jetzt so viel, daß man mit Einführung der
allgemeinen Wehrpflicht, mit Einführung irgendeines Hinterladungsgewehres
(das, wie überall die Phrase lautet, „die Mängel des preußischen beseitigen" soll)
beschäftigt ist, und daß die neuen Einrichtungen möglichst in Uebereinstimmung
mit Bayern getroffen werden sollen. Ein Entwurf zur Einführung der all«
gemeinen Wehrpflicht ist auch bereits ausgearbeitet. Aber es haben sich nach¬
träglich Bedenken gegen ein rasches Vorgehen erhoben. Die Sache, hieß es,
greise zu tief in alle Verhältnisse ein, man möge vorher noch eine genauere
Prüfung der verschiedenen Systeme anstellen u. s. w. Vermag man nicht schlüssig
zu werden, so soll dem nächsten Landtag wenigstens ein Gesetz über Aufhebung
der Stellvertretung als eine Abschlagszahlung vorgelegt werden. Dies zur
Charakterisirung des Tempo, in welchem die dringendsten Reformen sich bewegen.
Weiterhin hat die Negierung den Kammern den Entwurf einer neuen Gerichts¬
verfassung, und neuerdings der Oeffentlichkeit die Grundzüge einer neuen Or¬
ganisation der Verwaltung vorgelegt. Aber beide Entwürfe haben die offene- ^
liebe Meinung wenig befriedigt. Diese dringt hauptsächlich auf Vereinfachung
des öffentlichen Dienstes, wie sie dem kleinen Gemeinwesen entspricht, das des
großstaatlichen prätentiösen Apparates sich endlich entschlagen soll, und grade in
dieser Beziehung lassen sie viel zu wünschen übrig. Noch mehr verstimmt es,
daß diese secundären Arbeiten zuvor erledigt sein sollen, bevor Hand an die
Verfassung selbst gelegt wird, während umgekehrt nach der allgemeinen Stimme
die Reform bei der Wurzel hätte beginnen sollen. In der That ist an durch¬
greifende Besserungen gar nicht zu denken, ehe unsere mittelalterliche Stände-
Versammlung von ihren Adels- und Ständepriviiegien gereinigt und vor allem
die zweite Kammer zu einer wirklichen Vertretung des Volkes umgestaltet ist.
Es taucht deshalb der Gedanke auf, zu einer verfassungsrevibirenden Versamm¬
lung nach dem Gesetz vom 1. Juli 1849 als zu einem Rechte zurückzugreifen,
das nach dreimal gescheiterten Versuch willkürlich von der Reaction zurück¬
genommen worden ist. Es ist die Rede davon, eine allgemeine Agitation zur
Zurücksorderung dieses Rechts einzuleiten, wobei freilich zweifelhaft bleibt, ob
dieselbe den gewünschten Anklang und Nachdruck im Volke findet. Denn bis
jetzt wenigstens verhält sich die öffentliche Meinung ziemlich lau zu diesen inneren
Angelegenheiten; es ist, als ob sie es kaum der Mühe werth fände, an den
Formen des Particularstaats herumzuflicken, und auch dies ist bezeichnend in


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/489>, abgerufen am 29.06.2024.