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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Protestantentages lag. Das herrschende religiöse Extrem hatte in Vielen wie
gewöhnlich seinen extremen Gegensatz, eine entschiedene Neligionsscheu und Ab¬
neigung gegen alles Kirchenwesen hervorgerufen. Einem dogmatisch neutralen
Verein glaubte man nickt gut beitreten zu können. Weit lieber als für die
auf kirchliche Selbstregierung und Lehrfreiheit gerichteten Satzungen des Pro¬
testantentags würde man etwa für ein Programm ins Feld gezogen sein, das
die historisch-kritischen Ergebnisse der tübinger Schule mit denjenigen der neuesten
Philosophie verquickt hätte. Strauß und Roman fanden in diesen Kreisen mehr
Zustimmung als Schenkel, Bluntschli und Baumgarten. Allein mit einer so
individuellen und subjektiven Auffassung bekehrt man die Massen nicht. Bald
sahen die Meisten ein. daß die im Wupperthal vorliegenden praktischen Auf¬
gaben besser durch Anschluß an den Protestantentag gelöst werden würden,
durch Eroberung der Gemeinden für eine zcitverständige Betrachtung der sitt-
lichen Dinge, durch Foitwandeln auf der in den Synoden geöffneten Bahn im
Zusammenhang mit der Mehrheit der rheinischen und mit der Minderheit der
westfälischen Provinzialsynode, als durch den Cultus der gesunden Vernunft in
kleinen Cvnventikeln, oder wenn es hoch kam. durch die Bildung freier Ge¬
meinden. Der einzelne Vater freilich könnte ja auch durch letztere den ihm zu¬
meist am Herzen liegenden Zweck erreichen, nämlich seine Kinder vor einer ihm
falsch und verderblich dünkenden Kirchenlehre zu bewahren; jedoch für die Masse
des Volks wäre damit so gut wie nichts erreicht. Es ist aber heute nicht mehr
hoffnungslos, die evangelische Kirche von innen heraus umzustimmen. In Rhein¬
preußen vollends giebt es dafür ganz ausgiebige Mittel., Die Prediger werden
dort durch die Mehrheit der Gemeindevertretung gewählt; die Gemeindevertre¬
tung selbstverständlich durch die Gemeinde. Bringt man letztere also auf seine
Seite, so entscheidet man schließlich über den Geist der Predigt, und nicht darüber
allein, sondern mittelbar zugleich über die Art und den Grad von Einmischung,
welchen die Kirche d. h. die Geistlichkeit auf die Schulen jedes Ranges üben
soll, vorzugsweise auf die Volksschulen. Die Mehrheit der Gemeinden d. h.
der mitwählenden Gemeindeglieder tritt jetzt in die Fußtapfen konservativer
Führer, weil sich ihr keine anderen auswerfen. Sie wird in zahlreichen Fällen
anders wählen, wenn der gebildete Liberalismus seine träge, feige, vornehme
Scheu vor dem Inneren der christlichen Tempel überwunden haben und an
dem kirchlichen Gesammtleben des Volkes wieder thätigen, lebendigen Antheil
nehmen wird, jene unfruchtbare Fortgeschrittenheit verschmähend, die im vorigen
Menschenalter Mode war.

Die Besprechungen wegen Gründung eines örtlichen Protestantenvereins
für Elberfeld und Barmer begannen eben, als der drohende deutsche Krieg alles
in seine umwälzenden Strudel zog. Aber so mächtig und gesund ist der Trieb,
der zu ihnen drängte, daß sie trotz des Krieges und der ungeheuren Aufregung


Grenzboten IV. 18so. -, 4

Protestantentages lag. Das herrschende religiöse Extrem hatte in Vielen wie
gewöhnlich seinen extremen Gegensatz, eine entschiedene Neligionsscheu und Ab¬
neigung gegen alles Kirchenwesen hervorgerufen. Einem dogmatisch neutralen
Verein glaubte man nickt gut beitreten zu können. Weit lieber als für die
auf kirchliche Selbstregierung und Lehrfreiheit gerichteten Satzungen des Pro¬
testantentags würde man etwa für ein Programm ins Feld gezogen sein, das
die historisch-kritischen Ergebnisse der tübinger Schule mit denjenigen der neuesten
Philosophie verquickt hätte. Strauß und Roman fanden in diesen Kreisen mehr
Zustimmung als Schenkel, Bluntschli und Baumgarten. Allein mit einer so
individuellen und subjektiven Auffassung bekehrt man die Massen nicht. Bald
sahen die Meisten ein. daß die im Wupperthal vorliegenden praktischen Auf¬
gaben besser durch Anschluß an den Protestantentag gelöst werden würden,
durch Eroberung der Gemeinden für eine zcitverständige Betrachtung der sitt-
lichen Dinge, durch Foitwandeln auf der in den Synoden geöffneten Bahn im
Zusammenhang mit der Mehrheit der rheinischen und mit der Minderheit der
westfälischen Provinzialsynode, als durch den Cultus der gesunden Vernunft in
kleinen Cvnventikeln, oder wenn es hoch kam. durch die Bildung freier Ge¬
meinden. Der einzelne Vater freilich könnte ja auch durch letztere den ihm zu¬
meist am Herzen liegenden Zweck erreichen, nämlich seine Kinder vor einer ihm
falsch und verderblich dünkenden Kirchenlehre zu bewahren; jedoch für die Masse
des Volks wäre damit so gut wie nichts erreicht. Es ist aber heute nicht mehr
hoffnungslos, die evangelische Kirche von innen heraus umzustimmen. In Rhein¬
preußen vollends giebt es dafür ganz ausgiebige Mittel., Die Prediger werden
dort durch die Mehrheit der Gemeindevertretung gewählt; die Gemeindevertre¬
tung selbstverständlich durch die Gemeinde. Bringt man letztere also auf seine
Seite, so entscheidet man schließlich über den Geist der Predigt, und nicht darüber
allein, sondern mittelbar zugleich über die Art und den Grad von Einmischung,
welchen die Kirche d. h. die Geistlichkeit auf die Schulen jedes Ranges üben
soll, vorzugsweise auf die Volksschulen. Die Mehrheit der Gemeinden d. h.
der mitwählenden Gemeindeglieder tritt jetzt in die Fußtapfen konservativer
Führer, weil sich ihr keine anderen auswerfen. Sie wird in zahlreichen Fällen
anders wählen, wenn der gebildete Liberalismus seine träge, feige, vornehme
Scheu vor dem Inneren der christlichen Tempel überwunden haben und an
dem kirchlichen Gesammtleben des Volkes wieder thätigen, lebendigen Antheil
nehmen wird, jene unfruchtbare Fortgeschrittenheit verschmähend, die im vorigen
Menschenalter Mode war.

Die Besprechungen wegen Gründung eines örtlichen Protestantenvereins
für Elberfeld und Barmer begannen eben, als der drohende deutsche Krieg alles
in seine umwälzenden Strudel zog. Aber so mächtig und gesund ist der Trieb,
der zu ihnen drängte, daß sie trotz des Krieges und der ungeheuren Aufregung


Grenzboten IV. 18so. -, 4
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[0035] Protestantentages lag. Das herrschende religiöse Extrem hatte in Vielen wie gewöhnlich seinen extremen Gegensatz, eine entschiedene Neligionsscheu und Ab¬ neigung gegen alles Kirchenwesen hervorgerufen. Einem dogmatisch neutralen Verein glaubte man nickt gut beitreten zu können. Weit lieber als für die auf kirchliche Selbstregierung und Lehrfreiheit gerichteten Satzungen des Pro¬ testantentags würde man etwa für ein Programm ins Feld gezogen sein, das die historisch-kritischen Ergebnisse der tübinger Schule mit denjenigen der neuesten Philosophie verquickt hätte. Strauß und Roman fanden in diesen Kreisen mehr Zustimmung als Schenkel, Bluntschli und Baumgarten. Allein mit einer so individuellen und subjektiven Auffassung bekehrt man die Massen nicht. Bald sahen die Meisten ein. daß die im Wupperthal vorliegenden praktischen Auf¬ gaben besser durch Anschluß an den Protestantentag gelöst werden würden, durch Eroberung der Gemeinden für eine zcitverständige Betrachtung der sitt- lichen Dinge, durch Foitwandeln auf der in den Synoden geöffneten Bahn im Zusammenhang mit der Mehrheit der rheinischen und mit der Minderheit der westfälischen Provinzialsynode, als durch den Cultus der gesunden Vernunft in kleinen Cvnventikeln, oder wenn es hoch kam. durch die Bildung freier Ge¬ meinden. Der einzelne Vater freilich könnte ja auch durch letztere den ihm zu¬ meist am Herzen liegenden Zweck erreichen, nämlich seine Kinder vor einer ihm falsch und verderblich dünkenden Kirchenlehre zu bewahren; jedoch für die Masse des Volks wäre damit so gut wie nichts erreicht. Es ist aber heute nicht mehr hoffnungslos, die evangelische Kirche von innen heraus umzustimmen. In Rhein¬ preußen vollends giebt es dafür ganz ausgiebige Mittel., Die Prediger werden dort durch die Mehrheit der Gemeindevertretung gewählt; die Gemeindevertre¬ tung selbstverständlich durch die Gemeinde. Bringt man letztere also auf seine Seite, so entscheidet man schließlich über den Geist der Predigt, und nicht darüber allein, sondern mittelbar zugleich über die Art und den Grad von Einmischung, welchen die Kirche d. h. die Geistlichkeit auf die Schulen jedes Ranges üben soll, vorzugsweise auf die Volksschulen. Die Mehrheit der Gemeinden d. h. der mitwählenden Gemeindeglieder tritt jetzt in die Fußtapfen konservativer Führer, weil sich ihr keine anderen auswerfen. Sie wird in zahlreichen Fällen anders wählen, wenn der gebildete Liberalismus seine träge, feige, vornehme Scheu vor dem Inneren der christlichen Tempel überwunden haben und an dem kirchlichen Gesammtleben des Volkes wieder thätigen, lebendigen Antheil nehmen wird, jene unfruchtbare Fortgeschrittenheit verschmähend, die im vorigen Menschenalter Mode war. Die Besprechungen wegen Gründung eines örtlichen Protestantenvereins für Elberfeld und Barmer begannen eben, als der drohende deutsche Krieg alles in seine umwälzenden Strudel zog. Aber so mächtig und gesund ist der Trieb, der zu ihnen drängte, daß sie trotz des Krieges und der ungeheuren Aufregung Grenzboten IV. 18so. -, 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/35>, abgerufen am 30.06.2024.