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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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geführt hatte, ob die Scheidung des Volkes in einen gering geachteten Pöbel
und eine von ihm abgewandte höfische Gesellschaft, ob der ungelöste Widerspruch
zwischen einer formell nicht angefochtenen Staatsreligion und einer aus ganz
verschiedenen Quellen fließenden Bildung ihre Ursachen oder selbst nur ihre
Erscheinungsformen waren, sind Fragen, an deren Erledigung wir hier nicht
denken dürfen. Dagegen wollen wir uns nicht versagen, auf einige Symptome
des Uebels hinzuweisen, welche dem Leser unseres Gedichtes mit bedenklicher
Klarheit entgegentreten. Wir rechnen dazu namentlich die traurige Rolle, welche
dem ehelichen Verhältniß zugewiesen ist. Archimbald wird der Gemahl einer
Fürstentochter, die er vor seiner Vermählung nie gesehn, die aber gegen die
Verbindung mit ihm nichts eingewendet zu haben scheint (eine Lücke der Hand¬
schrift gestattet nicht, es mit Bestimmtheit auszusprechen), und ist glücklich in
ihrem Besitze. Flammea ist es nicht minder, oder leidet zum mindesten keines¬
wegs unter ihrer neuen Stellung, und in der That, Archimbald. wie der An¬
fang und der Schluß der Dichtung ihn zeigen, ist ein Mann, an dem wir keine
der Eigenschaften vermissen, die den Ritter auszeichnen. Es stört ihr glückliches
Zusammenleben der Anfall grundloser Eifersucht, dem der Gatte erliegt und
der auf einmal ein Zerrbild aus ihm macht, den grausamen, kleinlichen, ruhe¬
losen Wächter eines Weibes, das jetzt erst anfängt ihn gering zu achten und
sich ohne jedes Bedenken dem Manne hingiebt, der sich ihr aus die abenteuer¬
lichste Weise zu nahen gewußt hat, den sie für einen Geistlichen halten muß
und dessen Liebe der Dichter nicht anders zu erklären weiß als mit den Worten:
"Vom Sagen wußte er wohl, was Liebe sei, da er alle Schriftsteller gelesen
hatte, welche von Liebe sprechen und sich den Schein der Liebe geben; er er¬
kannte, daß er nach den Forderungen, die man an die Jugend stellt, es nicht
lange mehr aufschieben könne, sich in Liebe einzulassen; so dachte er denn, er
wolle sein Herz -auf eine solche Liebe wenden. die ihm fromme und daß man
ihn nicht für einen niedrig denkenden Menschen halte; er hörte von der Ge¬
fangenschaft Flamencas'und wie sie besser und schöner und höfischeren Wesens
sei als irgendwer, und es kam ihm der Gedanke, er würde sie lieben, wenn
es möglich wäre mit ihr zu sprechen." So wird denn die Heiligkeit der Ehe
mit Füßen getreten nicht etwa von solchen, denen Zweifel darüber gekommen
wären, die darin eine veraltete Menschensatzung sähen und etwa die freie Liebe
auf den Thron zu setzen gedächten, auch nicht von solchen, die der Wirbelwind
der Leidenschaft erfaßt hätte und die in der Verblendung eine Grenze über¬
schritten, welche sie sonst anerkennten; nein. Ehe und Liebe oder besser Ehe und
Ehebruch sind hier gleichmäßig Sache der Convenienz.

Und das ist nicht alles; auch die plumpste Verletzung von Treu und
Glauben wird von unserm Dichter entschuldigt oder vielmehr er denkt gar nicht
daran, daß darin eine Schuld liege. Flammea erlangt die volle Freiheit des


Grenzboten IV. 18S6. 33

geführt hatte, ob die Scheidung des Volkes in einen gering geachteten Pöbel
und eine von ihm abgewandte höfische Gesellschaft, ob der ungelöste Widerspruch
zwischen einer formell nicht angefochtenen Staatsreligion und einer aus ganz
verschiedenen Quellen fließenden Bildung ihre Ursachen oder selbst nur ihre
Erscheinungsformen waren, sind Fragen, an deren Erledigung wir hier nicht
denken dürfen. Dagegen wollen wir uns nicht versagen, auf einige Symptome
des Uebels hinzuweisen, welche dem Leser unseres Gedichtes mit bedenklicher
Klarheit entgegentreten. Wir rechnen dazu namentlich die traurige Rolle, welche
dem ehelichen Verhältniß zugewiesen ist. Archimbald wird der Gemahl einer
Fürstentochter, die er vor seiner Vermählung nie gesehn, die aber gegen die
Verbindung mit ihm nichts eingewendet zu haben scheint (eine Lücke der Hand¬
schrift gestattet nicht, es mit Bestimmtheit auszusprechen), und ist glücklich in
ihrem Besitze. Flammea ist es nicht minder, oder leidet zum mindesten keines¬
wegs unter ihrer neuen Stellung, und in der That, Archimbald. wie der An¬
fang und der Schluß der Dichtung ihn zeigen, ist ein Mann, an dem wir keine
der Eigenschaften vermissen, die den Ritter auszeichnen. Es stört ihr glückliches
Zusammenleben der Anfall grundloser Eifersucht, dem der Gatte erliegt und
der auf einmal ein Zerrbild aus ihm macht, den grausamen, kleinlichen, ruhe¬
losen Wächter eines Weibes, das jetzt erst anfängt ihn gering zu achten und
sich ohne jedes Bedenken dem Manne hingiebt, der sich ihr aus die abenteuer¬
lichste Weise zu nahen gewußt hat, den sie für einen Geistlichen halten muß
und dessen Liebe der Dichter nicht anders zu erklären weiß als mit den Worten:
„Vom Sagen wußte er wohl, was Liebe sei, da er alle Schriftsteller gelesen
hatte, welche von Liebe sprechen und sich den Schein der Liebe geben; er er¬
kannte, daß er nach den Forderungen, die man an die Jugend stellt, es nicht
lange mehr aufschieben könne, sich in Liebe einzulassen; so dachte er denn, er
wolle sein Herz -auf eine solche Liebe wenden. die ihm fromme und daß man
ihn nicht für einen niedrig denkenden Menschen halte; er hörte von der Ge¬
fangenschaft Flamencas'und wie sie besser und schöner und höfischeren Wesens
sei als irgendwer, und es kam ihm der Gedanke, er würde sie lieben, wenn
es möglich wäre mit ihr zu sprechen." So wird denn die Heiligkeit der Ehe
mit Füßen getreten nicht etwa von solchen, denen Zweifel darüber gekommen
wären, die darin eine veraltete Menschensatzung sähen und etwa die freie Liebe
auf den Thron zu setzen gedächten, auch nicht von solchen, die der Wirbelwind
der Leidenschaft erfaßt hätte und die in der Verblendung eine Grenze über¬
schritten, welche sie sonst anerkennten; nein. Ehe und Liebe oder besser Ehe und
Ehebruch sind hier gleichmäßig Sache der Convenienz.

Und das ist nicht alles; auch die plumpste Verletzung von Treu und
Glauben wird von unserm Dichter entschuldigt oder vielmehr er denkt gar nicht
daran, daß darin eine Schuld liege. Flammea erlangt die volle Freiheit des


Grenzboten IV. 18S6. 33
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[0279] geführt hatte, ob die Scheidung des Volkes in einen gering geachteten Pöbel und eine von ihm abgewandte höfische Gesellschaft, ob der ungelöste Widerspruch zwischen einer formell nicht angefochtenen Staatsreligion und einer aus ganz verschiedenen Quellen fließenden Bildung ihre Ursachen oder selbst nur ihre Erscheinungsformen waren, sind Fragen, an deren Erledigung wir hier nicht denken dürfen. Dagegen wollen wir uns nicht versagen, auf einige Symptome des Uebels hinzuweisen, welche dem Leser unseres Gedichtes mit bedenklicher Klarheit entgegentreten. Wir rechnen dazu namentlich die traurige Rolle, welche dem ehelichen Verhältniß zugewiesen ist. Archimbald wird der Gemahl einer Fürstentochter, die er vor seiner Vermählung nie gesehn, die aber gegen die Verbindung mit ihm nichts eingewendet zu haben scheint (eine Lücke der Hand¬ schrift gestattet nicht, es mit Bestimmtheit auszusprechen), und ist glücklich in ihrem Besitze. Flammea ist es nicht minder, oder leidet zum mindesten keines¬ wegs unter ihrer neuen Stellung, und in der That, Archimbald. wie der An¬ fang und der Schluß der Dichtung ihn zeigen, ist ein Mann, an dem wir keine der Eigenschaften vermissen, die den Ritter auszeichnen. Es stört ihr glückliches Zusammenleben der Anfall grundloser Eifersucht, dem der Gatte erliegt und der auf einmal ein Zerrbild aus ihm macht, den grausamen, kleinlichen, ruhe¬ losen Wächter eines Weibes, das jetzt erst anfängt ihn gering zu achten und sich ohne jedes Bedenken dem Manne hingiebt, der sich ihr aus die abenteuer¬ lichste Weise zu nahen gewußt hat, den sie für einen Geistlichen halten muß und dessen Liebe der Dichter nicht anders zu erklären weiß als mit den Worten: „Vom Sagen wußte er wohl, was Liebe sei, da er alle Schriftsteller gelesen hatte, welche von Liebe sprechen und sich den Schein der Liebe geben; er er¬ kannte, daß er nach den Forderungen, die man an die Jugend stellt, es nicht lange mehr aufschieben könne, sich in Liebe einzulassen; so dachte er denn, er wolle sein Herz -auf eine solche Liebe wenden. die ihm fromme und daß man ihn nicht für einen niedrig denkenden Menschen halte; er hörte von der Ge¬ fangenschaft Flamencas'und wie sie besser und schöner und höfischeren Wesens sei als irgendwer, und es kam ihm der Gedanke, er würde sie lieben, wenn es möglich wäre mit ihr zu sprechen." So wird denn die Heiligkeit der Ehe mit Füßen getreten nicht etwa von solchen, denen Zweifel darüber gekommen wären, die darin eine veraltete Menschensatzung sähen und etwa die freie Liebe auf den Thron zu setzen gedächten, auch nicht von solchen, die der Wirbelwind der Leidenschaft erfaßt hätte und die in der Verblendung eine Grenze über¬ schritten, welche sie sonst anerkennten; nein. Ehe und Liebe oder besser Ehe und Ehebruch sind hier gleichmäßig Sache der Convenienz. Und das ist nicht alles; auch die plumpste Verletzung von Treu und Glauben wird von unserm Dichter entschuldigt oder vielmehr er denkt gar nicht daran, daß darin eine Schuld liege. Flammea erlangt die volle Freiheit des Grenzboten IV. 18S6. 33

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/279>, abgerufen am 04.07.2024.