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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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nommer. daß sie es keineswegs bedauern, wenn ihre Herrin sie allein läßt und
dem Geliebten in seine Kammer folgt. Vier Monate vergehn über diesen Zu¬
sammenkünften. Endlich verlangt Archimbald von Flammea eine Erklärung
ihres so überraschend heiteren Wesens und der immer geringschätziger gewordenen
Behandlung, welche er von ihr erfährt. Sie rügt seine lästige Eifersucht und
schwört ihm zuletzt, sie werde, wofern er ihr volle Freiheit gewähre, ihre Un¬
schuld grade so gut hüten, als er dieselbe bisher gehütet habe. Es
scheint, Archimbald läßt sich durch diesen Eid bestimmen, nunmehr einen ganz
verschiedenen Weg einzuschlagen; wenigstens finden wir ihn. wo die Erzählung
nach einer an dieser Stelle ganz besonders zu bedauernden Lücke der Handschrift
weiter geht, voll Lebenslust und ritterlichen Unternehmungsgeistes und Flammea
in völliger Freiheit. Sie schickt nun auch ihren Freund in das weltliche Treiben
zurück, in welchem sein Stand ihm einen Platz anweist und er um seiner Vor¬
züge willen überall gern gesehn ist. Archimbald macht seine Bekanntschaft,
gewinnt ihn lieb und ladet ihn zu einem großen Turniere ein, das er in
Bourbon veranstaltet. Wilhelm nimmt natürlich an; das Vertrauen seines
Freundes, den er durch Vorgeben einer Neigung für eine andre Dame täuscht,
gestattet ihm den Verkehr mit Flammea ohne alle Einschränkung, und er zeichnet
sich wie vorher überall so auch bei dem Turniere in Bourbon aus. in dessen
Schilderung/ die Handschrift abbricht, während der Roman sich vielleicht noch
weit hin fortgesponnen hat.




Da der Anfang sowohl als der Schluß der Dichtung uns nicht erhalten
sind, an welchen beiden Stellen mittelalterliche Erzähler sonst wohl ihren Namen
anzubringen Pflegen, auch keine anderweitige bezügliche Angabe sich bis heute
gefunden hat, so sind wir über die Person des Verfassers durchaus im Un¬
gewissen. Nicht so ganz über die Zeit, da er geschrieben. Seine beiläufig ein¬
geflochtenen Klagen über den Verfall des glänzenden Hoflebens früherer Zeiten,
seine weitgehende Neigung zu allegorischer Personification, seine Vertrautheit
mit nordfranzösischen geographischen Verhältnissen und mit Romanstvffen. welche
uns nur in nordfranzösischer Bearbeitung bekannt sind, auch seine Sprache, in
welcher mehrfach das Streben nach Durchführung einer unorganischen Analogie
an der Stelle einer organischen Anomalie sich kundgiebt und die Häufung der
Diminutiven so unangenehm wie etwa bei Apulejus auffällt, dies alles spricht
für die Entstehung des Werkes in jener Zeit, wo der Glanz der provenzalischen
Dichtung bei aller Thätigkeit der Theoretiker zu erbleichen begann, während im
Norden Frankreichs höfische Kunst in höchster Blüthe stand, kurz im dreizehnten
Jahrhundert. Raynouaro hat auch darauf aufmerksam gemacht, daß des Fron¬
leichnamsfestes in dem Festkalender, welchen das Gedicht uns darbietet, nicht


nommer. daß sie es keineswegs bedauern, wenn ihre Herrin sie allein läßt und
dem Geliebten in seine Kammer folgt. Vier Monate vergehn über diesen Zu¬
sammenkünften. Endlich verlangt Archimbald von Flammea eine Erklärung
ihres so überraschend heiteren Wesens und der immer geringschätziger gewordenen
Behandlung, welche er von ihr erfährt. Sie rügt seine lästige Eifersucht und
schwört ihm zuletzt, sie werde, wofern er ihr volle Freiheit gewähre, ihre Un¬
schuld grade so gut hüten, als er dieselbe bisher gehütet habe. Es
scheint, Archimbald läßt sich durch diesen Eid bestimmen, nunmehr einen ganz
verschiedenen Weg einzuschlagen; wenigstens finden wir ihn. wo die Erzählung
nach einer an dieser Stelle ganz besonders zu bedauernden Lücke der Handschrift
weiter geht, voll Lebenslust und ritterlichen Unternehmungsgeistes und Flammea
in völliger Freiheit. Sie schickt nun auch ihren Freund in das weltliche Treiben
zurück, in welchem sein Stand ihm einen Platz anweist und er um seiner Vor¬
züge willen überall gern gesehn ist. Archimbald macht seine Bekanntschaft,
gewinnt ihn lieb und ladet ihn zu einem großen Turniere ein, das er in
Bourbon veranstaltet. Wilhelm nimmt natürlich an; das Vertrauen seines
Freundes, den er durch Vorgeben einer Neigung für eine andre Dame täuscht,
gestattet ihm den Verkehr mit Flammea ohne alle Einschränkung, und er zeichnet
sich wie vorher überall so auch bei dem Turniere in Bourbon aus. in dessen
Schilderung/ die Handschrift abbricht, während der Roman sich vielleicht noch
weit hin fortgesponnen hat.




Da der Anfang sowohl als der Schluß der Dichtung uns nicht erhalten
sind, an welchen beiden Stellen mittelalterliche Erzähler sonst wohl ihren Namen
anzubringen Pflegen, auch keine anderweitige bezügliche Angabe sich bis heute
gefunden hat, so sind wir über die Person des Verfassers durchaus im Un¬
gewissen. Nicht so ganz über die Zeit, da er geschrieben. Seine beiläufig ein¬
geflochtenen Klagen über den Verfall des glänzenden Hoflebens früherer Zeiten,
seine weitgehende Neigung zu allegorischer Personification, seine Vertrautheit
mit nordfranzösischen geographischen Verhältnissen und mit Romanstvffen. welche
uns nur in nordfranzösischer Bearbeitung bekannt sind, auch seine Sprache, in
welcher mehrfach das Streben nach Durchführung einer unorganischen Analogie
an der Stelle einer organischen Anomalie sich kundgiebt und die Häufung der
Diminutiven so unangenehm wie etwa bei Apulejus auffällt, dies alles spricht
für die Entstehung des Werkes in jener Zeit, wo der Glanz der provenzalischen
Dichtung bei aller Thätigkeit der Theoretiker zu erbleichen begann, während im
Norden Frankreichs höfische Kunst in höchster Blüthe stand, kurz im dreizehnten
Jahrhundert. Raynouaro hat auch darauf aufmerksam gemacht, daß des Fron¬
leichnamsfestes in dem Festkalender, welchen das Gedicht uns darbietet, nicht


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/274>, abgerufen am 04.07.2024.