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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Minnesinger Erwähnung thun und auch nicht eine epische Dichtung nennen,
daß was uns in wenigen Handschriften von erzählenden Dichterwerken erhalten
ist, neben der Fülle der nordfranzöstschen volksthümlichen und höfischen Epik
beinahe verschwindet. Genug Umstände weisen darauf hin, daß manche epische
Werke auch in Südfrankreich entstanden sind, aber die höhern Stände, deren
Theilnahme allein die Erhaltung literarischer Denkmäler durch die Schrift sichert,
müssen dieselben in ihrer Eingenommenheit für den formvollendeten, dagegen
nicht eben gedankenreichen Minnesang unbeachtet gelassen und sich dazu bequemt
haben, die nationale Sage und den ritterlichen Roman, welche beide ihrem In¬
halte nach unzweifelhaft auch im Süden geläufig gewesen sind, in nordfran-
zöstschem Gewände bei sich aufzunehmen. Thut man somit nur, was die Pro-
venzalen selber thaten, wenn man ihrer Lyrik in erster Linie die eigne und
Andrer Aufmerksamkeit zuwendet, so wird man damit zugleich auch dem Stand¬
punkte der allgemeinen Literaturgeschichte gerecht, welche der erzählenden Dich¬
tung der Provenzalen eine ganz untergeordnete Stellung anweisen muß, während
die Lyrik schon wegen ihrer befruchtenden Wirkung auf Spanien, Italien,
Nordfrankreich und Deutschland auf Beachtung Anspruch zu machen hat.

Es sei vergönnt, an dieser Stelle einmal auf ein Denkmal der provenza-
lischen Epik hinzuweisen, das erst in jüngster Zeit der Wissenschaft in relativer
Vollständigkeit zugänglich geworden ist, auf den von Raynouard und von dem
neuen Herausgeber, Herrn Paul Meyer in Paris, nach dem Namen der weib¬
lichen Hauptperson "Flammea" betitelten Roman. Raynouard hat ihn zuerst
durch Angabe seines Inhaltes und Abdruck von etwa einem Achtel des pro-
venzalischen Textes bekannt gemacht, Herr Meyer im Jahre 1865 das ganze
Werk, begleitet von einer französischen abkürzenden Uebersetzung und einem
Glossare herausgegeben. Das ganze Werk, soweit bei der UnVollständigkeit der
einzigen bekannten Handschrift davon die Rede sein kann; dieser in Carcassonne
aufbewahrten Handschrift fehlt nämlich der Anfang, ein wohl nicht sehr umfang¬
reiches Stück, ferner der Schluß, über dessen Ausdehnung sich nichts auch nur
Wahrscheinliches behaupten läßt, und in der Mitte zeigt sie verschiedene Lücken,
von denen indessen nur eine uns einen wesentlichen Theil der Handlung vor¬
enthält. Was man "Rettung" zu nennen pflegt, wird hier nicht beabsichtigt;
es soll nichts gepriesen werden, dessen Werth bisher bestlitten oder bezweifelt
wurde; keinen Dichternamen wollen wir der leicht vergessenden Welt ins Ge¬
dächtniß zurückrufen, schon weil wir nicht wissen, wem wir "Flammea" ver¬
danken; auch dem Werke soll kein Kranz gespendet werden. Wir haben es mit
ihm zu thun als mit einer Erscheinung, welche für die Welt, aus der sie hervor¬
gegangen, in verschiedenster Hinsicht bezeichnend ist, und an welcher sich die
mancherlei Seiten, von denen die Geschichte im weitesten Sinne sich an ihre
Ausbeutung machen kann, mit Leichtigkeit nachweisen lassen.


Grenzboten IV, 1866. . 32

Minnesinger Erwähnung thun und auch nicht eine epische Dichtung nennen,
daß was uns in wenigen Handschriften von erzählenden Dichterwerken erhalten
ist, neben der Fülle der nordfranzöstschen volksthümlichen und höfischen Epik
beinahe verschwindet. Genug Umstände weisen darauf hin, daß manche epische
Werke auch in Südfrankreich entstanden sind, aber die höhern Stände, deren
Theilnahme allein die Erhaltung literarischer Denkmäler durch die Schrift sichert,
müssen dieselben in ihrer Eingenommenheit für den formvollendeten, dagegen
nicht eben gedankenreichen Minnesang unbeachtet gelassen und sich dazu bequemt
haben, die nationale Sage und den ritterlichen Roman, welche beide ihrem In¬
halte nach unzweifelhaft auch im Süden geläufig gewesen sind, in nordfran-
zöstschem Gewände bei sich aufzunehmen. Thut man somit nur, was die Pro-
venzalen selber thaten, wenn man ihrer Lyrik in erster Linie die eigne und
Andrer Aufmerksamkeit zuwendet, so wird man damit zugleich auch dem Stand¬
punkte der allgemeinen Literaturgeschichte gerecht, welche der erzählenden Dich¬
tung der Provenzalen eine ganz untergeordnete Stellung anweisen muß, während
die Lyrik schon wegen ihrer befruchtenden Wirkung auf Spanien, Italien,
Nordfrankreich und Deutschland auf Beachtung Anspruch zu machen hat.

Es sei vergönnt, an dieser Stelle einmal auf ein Denkmal der provenza-
lischen Epik hinzuweisen, das erst in jüngster Zeit der Wissenschaft in relativer
Vollständigkeit zugänglich geworden ist, auf den von Raynouard und von dem
neuen Herausgeber, Herrn Paul Meyer in Paris, nach dem Namen der weib¬
lichen Hauptperson „Flammea" betitelten Roman. Raynouard hat ihn zuerst
durch Angabe seines Inhaltes und Abdruck von etwa einem Achtel des pro-
venzalischen Textes bekannt gemacht, Herr Meyer im Jahre 1865 das ganze
Werk, begleitet von einer französischen abkürzenden Uebersetzung und einem
Glossare herausgegeben. Das ganze Werk, soweit bei der UnVollständigkeit der
einzigen bekannten Handschrift davon die Rede sein kann; dieser in Carcassonne
aufbewahrten Handschrift fehlt nämlich der Anfang, ein wohl nicht sehr umfang¬
reiches Stück, ferner der Schluß, über dessen Ausdehnung sich nichts auch nur
Wahrscheinliches behaupten läßt, und in der Mitte zeigt sie verschiedene Lücken,
von denen indessen nur eine uns einen wesentlichen Theil der Handlung vor¬
enthält. Was man „Rettung" zu nennen pflegt, wird hier nicht beabsichtigt;
es soll nichts gepriesen werden, dessen Werth bisher bestlitten oder bezweifelt
wurde; keinen Dichternamen wollen wir der leicht vergessenden Welt ins Ge¬
dächtniß zurückrufen, schon weil wir nicht wissen, wem wir „Flammea" ver¬
danken; auch dem Werke soll kein Kranz gespendet werden. Wir haben es mit
ihm zu thun als mit einer Erscheinung, welche für die Welt, aus der sie hervor¬
gegangen, in verschiedenster Hinsicht bezeichnend ist, und an welcher sich die
mancherlei Seiten, von denen die Geschichte im weitesten Sinne sich an ihre
Ausbeutung machen kann, mit Leichtigkeit nachweisen lassen.


Grenzboten IV, 1866. . 32
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[0271] Minnesinger Erwähnung thun und auch nicht eine epische Dichtung nennen, daß was uns in wenigen Handschriften von erzählenden Dichterwerken erhalten ist, neben der Fülle der nordfranzöstschen volksthümlichen und höfischen Epik beinahe verschwindet. Genug Umstände weisen darauf hin, daß manche epische Werke auch in Südfrankreich entstanden sind, aber die höhern Stände, deren Theilnahme allein die Erhaltung literarischer Denkmäler durch die Schrift sichert, müssen dieselben in ihrer Eingenommenheit für den formvollendeten, dagegen nicht eben gedankenreichen Minnesang unbeachtet gelassen und sich dazu bequemt haben, die nationale Sage und den ritterlichen Roman, welche beide ihrem In¬ halte nach unzweifelhaft auch im Süden geläufig gewesen sind, in nordfran- zöstschem Gewände bei sich aufzunehmen. Thut man somit nur, was die Pro- venzalen selber thaten, wenn man ihrer Lyrik in erster Linie die eigne und Andrer Aufmerksamkeit zuwendet, so wird man damit zugleich auch dem Stand¬ punkte der allgemeinen Literaturgeschichte gerecht, welche der erzählenden Dich¬ tung der Provenzalen eine ganz untergeordnete Stellung anweisen muß, während die Lyrik schon wegen ihrer befruchtenden Wirkung auf Spanien, Italien, Nordfrankreich und Deutschland auf Beachtung Anspruch zu machen hat. Es sei vergönnt, an dieser Stelle einmal auf ein Denkmal der provenza- lischen Epik hinzuweisen, das erst in jüngster Zeit der Wissenschaft in relativer Vollständigkeit zugänglich geworden ist, auf den von Raynouard und von dem neuen Herausgeber, Herrn Paul Meyer in Paris, nach dem Namen der weib¬ lichen Hauptperson „Flammea" betitelten Roman. Raynouard hat ihn zuerst durch Angabe seines Inhaltes und Abdruck von etwa einem Achtel des pro- venzalischen Textes bekannt gemacht, Herr Meyer im Jahre 1865 das ganze Werk, begleitet von einer französischen abkürzenden Uebersetzung und einem Glossare herausgegeben. Das ganze Werk, soweit bei der UnVollständigkeit der einzigen bekannten Handschrift davon die Rede sein kann; dieser in Carcassonne aufbewahrten Handschrift fehlt nämlich der Anfang, ein wohl nicht sehr umfang¬ reiches Stück, ferner der Schluß, über dessen Ausdehnung sich nichts auch nur Wahrscheinliches behaupten läßt, und in der Mitte zeigt sie verschiedene Lücken, von denen indessen nur eine uns einen wesentlichen Theil der Handlung vor¬ enthält. Was man „Rettung" zu nennen pflegt, wird hier nicht beabsichtigt; es soll nichts gepriesen werden, dessen Werth bisher bestlitten oder bezweifelt wurde; keinen Dichternamen wollen wir der leicht vergessenden Welt ins Ge¬ dächtniß zurückrufen, schon weil wir nicht wissen, wem wir „Flammea" ver¬ danken; auch dem Werke soll kein Kranz gespendet werden. Wir haben es mit ihm zu thun als mit einer Erscheinung, welche für die Welt, aus der sie hervor¬ gegangen, in verschiedenster Hinsicht bezeichnend ist, und an welcher sich die mancherlei Seiten, von denen die Geschichte im weitesten Sinne sich an ihre Ausbeutung machen kann, mit Leichtigkeit nachweisen lassen. Grenzboten IV, 1866. . 32

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/271>, abgerufen am 26.07.2024.