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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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überging; da Ducis, der diesen großen Mann unter den lächerlichen Schutz
seiner schwerfälligen und eintönigen Alexandriner nahm, seine edelsten Meister¬
werke ins Classische travestirte? -- Shakespeare ist abwechselnd Corneille, Mo¬
liere und La Fontaine, aber er ist mehr Dichter als einer von diesen drei
Männern: er hat die Eigenschaften, die sie auszeichnen, weiter entwickelt als
einer von ihnen, er besitzt andere, die ihnen fremd sind. Als komischer Dichter
ist seine Laune von Heiterkeit ursprünglich, lebendig, unversiegbar; als tragischer
Dichter hat er mit größerer Energie als einer seiner Nebenbuhler jene beiden
Triebfedern der menschlichen Seele angespannt: das Mitleiden und den Schrecken.

La Fontaine, Moliere und Shakespeare haben für alle Glieder der mensch¬
lichen Familie geschrieben. Der reife Mann genießt sie, die Jugend begreift
und liebt sie. Es sind drei Universaldichter. Ihre Werke werden neben Homer
und der Bibel rum längsten im Angedenken der Menschen fortleben." -- An die
maßgebende Einwirkung Shakespeares auf die romantische Schule der Franzosen
wird hier nur erinnert.

Es bleibt nur noch ein Letztes, Shakespeares Stellung zu seinen gebildeten
und gelehrten Zeitgenossen und die Beachtung, welche seine Werke in literari¬
schen Kreisen fanden und die Gustav Rümelin (S. 16) "keine sonderliche und
hervortretende" nennt. Als Beleg führt er dafür eine Stelle "von Thomas
Nass*), einem angesehenen Kritiker jener Zeit" an und sagt: "In seiner Schil¬
derung einer Aufführung von Heinrich dem Achten im Globustheater sagt er
zu einer Zeit, da Shakespeare noch lebte, aber seine dichterische Laufbahn be¬
reits abgeschlossen hattet, unter anderem: "Der Verfasser dieses Stücks ist ein
gewisser William Shakespeare, ein Mann, dem es keineswegs an Talent fehlt.
Die Kenner geben indessen seinen Gedichten den Vorzug vor seinen Theater¬
stücken. Denn ein Theaterstück ist nur ein eitles Vergnügen. Die Menge ist
danach begierig, hält aber nichts von den Verfassern solcher Stücke u. s. w." --
Aber Heinrich der Achte wurde zum ersten Male aufgeführt im Jahre 1613-
wobei durch einen Böllerschuß das leicht gebaute Globustheater in Brand ge-
rieth. Und Thomas Nass, der, wie wir wissen, selbst dramatischer Dichter war,
mußte im Jahre 1601 sein junges Leben schließen***), das er an die Bekämpfung
der puritanischen Angriffe gegen Poesie und Bühne gesetzt hatte. Es ist also
nicht wahrscheinlich, daß er zwölf Jahre nach seinem Tode Worte geschrieben,
die ihm. von einem andern gesprochen, im Grabe kaum Ruhe gelassen hätten.
Es ist ferner derselbe Thomas Nass, welcher im "Hans Habenichts" (?ieie<z
?tu"7is88) wettert: "Ich will es gegen jeden Lumpenkerl und dickfäustigen
Wucherer unter ihnen allen vertreten: nirgendwo auf der Welt kann einem





*) Ich habe denselben Gewährsmann schon angeführt.
"
) Nach Colliers Ansicht unrichtig.
Siehe Einleitung zu kieroe ?tun?Ists, 8K. Sockel/.
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überging; da Ducis, der diesen großen Mann unter den lächerlichen Schutz
seiner schwerfälligen und eintönigen Alexandriner nahm, seine edelsten Meister¬
werke ins Classische travestirte? — Shakespeare ist abwechselnd Corneille, Mo¬
liere und La Fontaine, aber er ist mehr Dichter als einer von diesen drei
Männern: er hat die Eigenschaften, die sie auszeichnen, weiter entwickelt als
einer von ihnen, er besitzt andere, die ihnen fremd sind. Als komischer Dichter
ist seine Laune von Heiterkeit ursprünglich, lebendig, unversiegbar; als tragischer
Dichter hat er mit größerer Energie als einer seiner Nebenbuhler jene beiden
Triebfedern der menschlichen Seele angespannt: das Mitleiden und den Schrecken.

La Fontaine, Moliere und Shakespeare haben für alle Glieder der mensch¬
lichen Familie geschrieben. Der reife Mann genießt sie, die Jugend begreift
und liebt sie. Es sind drei Universaldichter. Ihre Werke werden neben Homer
und der Bibel rum längsten im Angedenken der Menschen fortleben." — An die
maßgebende Einwirkung Shakespeares auf die romantische Schule der Franzosen
wird hier nur erinnert.

Es bleibt nur noch ein Letztes, Shakespeares Stellung zu seinen gebildeten
und gelehrten Zeitgenossen und die Beachtung, welche seine Werke in literari¬
schen Kreisen fanden und die Gustav Rümelin (S. 16) „keine sonderliche und
hervortretende" nennt. Als Beleg führt er dafür eine Stelle „von Thomas
Nass*), einem angesehenen Kritiker jener Zeit" an und sagt: „In seiner Schil¬
derung einer Aufführung von Heinrich dem Achten im Globustheater sagt er
zu einer Zeit, da Shakespeare noch lebte, aber seine dichterische Laufbahn be¬
reits abgeschlossen hattet, unter anderem: „Der Verfasser dieses Stücks ist ein
gewisser William Shakespeare, ein Mann, dem es keineswegs an Talent fehlt.
Die Kenner geben indessen seinen Gedichten den Vorzug vor seinen Theater¬
stücken. Denn ein Theaterstück ist nur ein eitles Vergnügen. Die Menge ist
danach begierig, hält aber nichts von den Verfassern solcher Stücke u. s. w." —
Aber Heinrich der Achte wurde zum ersten Male aufgeführt im Jahre 1613-
wobei durch einen Böllerschuß das leicht gebaute Globustheater in Brand ge-
rieth. Und Thomas Nass, der, wie wir wissen, selbst dramatischer Dichter war,
mußte im Jahre 1601 sein junges Leben schließen***), das er an die Bekämpfung
der puritanischen Angriffe gegen Poesie und Bühne gesetzt hatte. Es ist also
nicht wahrscheinlich, daß er zwölf Jahre nach seinem Tode Worte geschrieben,
die ihm. von einem andern gesprochen, im Grabe kaum Ruhe gelassen hätten.
Es ist ferner derselbe Thomas Nass, welcher im „Hans Habenichts" (?ieie<z
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Wucherer unter ihnen allen vertreten: nirgendwo auf der Welt kann einem





*) Ich habe denselben Gewährsmann schon angeführt.
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) Nach Colliers Ansicht unrichtig.
Siehe Einleitung zu kieroe ?tun?Ists, 8K. Sockel/.
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[0205] überging; da Ducis, der diesen großen Mann unter den lächerlichen Schutz seiner schwerfälligen und eintönigen Alexandriner nahm, seine edelsten Meister¬ werke ins Classische travestirte? — Shakespeare ist abwechselnd Corneille, Mo¬ liere und La Fontaine, aber er ist mehr Dichter als einer von diesen drei Männern: er hat die Eigenschaften, die sie auszeichnen, weiter entwickelt als einer von ihnen, er besitzt andere, die ihnen fremd sind. Als komischer Dichter ist seine Laune von Heiterkeit ursprünglich, lebendig, unversiegbar; als tragischer Dichter hat er mit größerer Energie als einer seiner Nebenbuhler jene beiden Triebfedern der menschlichen Seele angespannt: das Mitleiden und den Schrecken. La Fontaine, Moliere und Shakespeare haben für alle Glieder der mensch¬ lichen Familie geschrieben. Der reife Mann genießt sie, die Jugend begreift und liebt sie. Es sind drei Universaldichter. Ihre Werke werden neben Homer und der Bibel rum längsten im Angedenken der Menschen fortleben." — An die maßgebende Einwirkung Shakespeares auf die romantische Schule der Franzosen wird hier nur erinnert. Es bleibt nur noch ein Letztes, Shakespeares Stellung zu seinen gebildeten und gelehrten Zeitgenossen und die Beachtung, welche seine Werke in literari¬ schen Kreisen fanden und die Gustav Rümelin (S. 16) „keine sonderliche und hervortretende" nennt. Als Beleg führt er dafür eine Stelle „von Thomas Nass*), einem angesehenen Kritiker jener Zeit" an und sagt: „In seiner Schil¬ derung einer Aufführung von Heinrich dem Achten im Globustheater sagt er zu einer Zeit, da Shakespeare noch lebte, aber seine dichterische Laufbahn be¬ reits abgeschlossen hattet, unter anderem: „Der Verfasser dieses Stücks ist ein gewisser William Shakespeare, ein Mann, dem es keineswegs an Talent fehlt. Die Kenner geben indessen seinen Gedichten den Vorzug vor seinen Theater¬ stücken. Denn ein Theaterstück ist nur ein eitles Vergnügen. Die Menge ist danach begierig, hält aber nichts von den Verfassern solcher Stücke u. s. w." — Aber Heinrich der Achte wurde zum ersten Male aufgeführt im Jahre 1613- wobei durch einen Böllerschuß das leicht gebaute Globustheater in Brand ge- rieth. Und Thomas Nass, der, wie wir wissen, selbst dramatischer Dichter war, mußte im Jahre 1601 sein junges Leben schließen***), das er an die Bekämpfung der puritanischen Angriffe gegen Poesie und Bühne gesetzt hatte. Es ist also nicht wahrscheinlich, daß er zwölf Jahre nach seinem Tode Worte geschrieben, die ihm. von einem andern gesprochen, im Grabe kaum Ruhe gelassen hätten. Es ist ferner derselbe Thomas Nass, welcher im „Hans Habenichts" (?ieie<z ?tu»7is88) wettert: „Ich will es gegen jeden Lumpenkerl und dickfäustigen Wucherer unter ihnen allen vertreten: nirgendwo auf der Welt kann einem *) Ich habe denselben Gewährsmann schon angeführt. " ) Nach Colliers Ansicht unrichtig. Siehe Einleitung zu kieroe ?tun?Ists, 8K. Sockel/. 24*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/205>, abgerufen am 02.07.2024.