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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Dank der philosophischen und historischen Arbeit des letzten Menschenalters das
gesammte griechische Wesen so völlig in den Organismus der geschichtlichen
Entwickelung eingefügt, daß es uns, die wir so schnell zu vergessen gelernt
haben, sonderbar vorkommt, wenn man der ersten Verkündigung dieser Wahr¬
heit solche Bedeutung beimißt. Sie ist uns schon so trivial geworden, daß wir
die schüchternen Versuche des Widerspruchs nur mehr als Kuriositäten belächeln,
wie man sie freilich am ersten an>"Philologen" in jenem alten Sinne zu finden
gefaßt ist. Der Hinweis auf die orientalischen Quellen der griechischen Cultur,
den das Schriftchen versuchte, konnte nach dem damaligen Stande der positiven
Kenntnisse in "der Linguistik und Geschichte nur ein sehr fragmentarischer sein,
doch ist er frei von allen jenen phantastischen Consusionen, in die sich Creuzer
und seine Anhänger verloren. Daneben aber erkannte die künstlerische Potenz
des jungen Philologen den eigentlichen Kern des griechischen Wesens mit einer
Klarheit und Tiefe, die für immer auch in der schmucken Fassung des lateinischen
Ausdrucks etwas Classisches an sich tragen. Die Schönheit der Erscheinungs¬
form ist ihm das weltgeschichtliche Product des griechischen Geistes, allerdings
nur ein Moment der weltgeschichtlichen Evolution, aber ein ewig giltiges und
befruchtendes und hier wieder ist ihm Homer die wahre Quintessenz und Quelle
des Griechenthums in seiner idealen Bedeutung. So hat denn auch der Mann
und Greis nicht umzulernen nöthig gehabt: die griechische Sprache und Poesie
ist ihm stets dasselbe geblieben, was sie der Intuition seiner Jugend war. Er
lebte in ihr und von ihr als von der süßesten und liebsten Speise unter allen
und seine Tafel war doch wahrlich reicher besetzt als bei den Meisten. Er wid¬
mete ihr auch dann noch immer nicht blos jene einzige durchbohrende Kraft der
Receptivität, mit der er jedes Object in dem Moment, wo er an dasselbe heran¬
trat, auch sofort bewältigte, sondern er blieb bis zuletzt nach seinem eigenen
Bekenntniß ein bewundernder und demüthiger Schüler des griechischen Kunst¬
genius. Ohne an den Minutien der specifisch philologischen Arbeit dieser letzten
Decennien besondern Antheil zu nehmen, las er fortwährend griechische Dichter
und wenn auch mit Vorliebe Homer, so doch mit noch mehr Zeit und Kraft¬
aufwand die Tragiker, selbstverständlich ohne der auch in ihren Trümmern so
reichen Reste der übrigen griechischen Poesie zu vergessen. Wie überall war
sein Lesen und seine Receptivität zugleich die lebhafteste und vielseitigste Pro-
ductivität. Eine ganze Reihe der von ihm benutzten Handausgaben bezeugt
dies: wie schon der vierzehnjährige Knabe sein Schulexemplar der Odyssee dazu
benutzt hatte, um mit äußerst zierlicher, aber leider auch vergänglicher Bleistist-
schrift eine metrische deutsche Jnterlinearversion dem griechischen Texte zwischen¬
zuschieben, so sind auch jene später benutzten alten und neuen Drucke mit Noten
aller Art angefüllt. Theilweise eigentlich kritischer Natur, Wiederherstellungen
des Textes so zu sagen von innen heraus, ohne sich um die Lesarten des Codex


Dank der philosophischen und historischen Arbeit des letzten Menschenalters das
gesammte griechische Wesen so völlig in den Organismus der geschichtlichen
Entwickelung eingefügt, daß es uns, die wir so schnell zu vergessen gelernt
haben, sonderbar vorkommt, wenn man der ersten Verkündigung dieser Wahr¬
heit solche Bedeutung beimißt. Sie ist uns schon so trivial geworden, daß wir
die schüchternen Versuche des Widerspruchs nur mehr als Kuriositäten belächeln,
wie man sie freilich am ersten an>„Philologen" in jenem alten Sinne zu finden
gefaßt ist. Der Hinweis auf die orientalischen Quellen der griechischen Cultur,
den das Schriftchen versuchte, konnte nach dem damaligen Stande der positiven
Kenntnisse in "der Linguistik und Geschichte nur ein sehr fragmentarischer sein,
doch ist er frei von allen jenen phantastischen Consusionen, in die sich Creuzer
und seine Anhänger verloren. Daneben aber erkannte die künstlerische Potenz
des jungen Philologen den eigentlichen Kern des griechischen Wesens mit einer
Klarheit und Tiefe, die für immer auch in der schmucken Fassung des lateinischen
Ausdrucks etwas Classisches an sich tragen. Die Schönheit der Erscheinungs¬
form ist ihm das weltgeschichtliche Product des griechischen Geistes, allerdings
nur ein Moment der weltgeschichtlichen Evolution, aber ein ewig giltiges und
befruchtendes und hier wieder ist ihm Homer die wahre Quintessenz und Quelle
des Griechenthums in seiner idealen Bedeutung. So hat denn auch der Mann
und Greis nicht umzulernen nöthig gehabt: die griechische Sprache und Poesie
ist ihm stets dasselbe geblieben, was sie der Intuition seiner Jugend war. Er
lebte in ihr und von ihr als von der süßesten und liebsten Speise unter allen
und seine Tafel war doch wahrlich reicher besetzt als bei den Meisten. Er wid¬
mete ihr auch dann noch immer nicht blos jene einzige durchbohrende Kraft der
Receptivität, mit der er jedes Object in dem Moment, wo er an dasselbe heran¬
trat, auch sofort bewältigte, sondern er blieb bis zuletzt nach seinem eigenen
Bekenntniß ein bewundernder und demüthiger Schüler des griechischen Kunst¬
genius. Ohne an den Minutien der specifisch philologischen Arbeit dieser letzten
Decennien besondern Antheil zu nehmen, las er fortwährend griechische Dichter
und wenn auch mit Vorliebe Homer, so doch mit noch mehr Zeit und Kraft¬
aufwand die Tragiker, selbstverständlich ohne der auch in ihren Trümmern so
reichen Reste der übrigen griechischen Poesie zu vergessen. Wie überall war
sein Lesen und seine Receptivität zugleich die lebhafteste und vielseitigste Pro-
ductivität. Eine ganze Reihe der von ihm benutzten Handausgaben bezeugt
dies: wie schon der vierzehnjährige Knabe sein Schulexemplar der Odyssee dazu
benutzt hatte, um mit äußerst zierlicher, aber leider auch vergänglicher Bleistist-
schrift eine metrische deutsche Jnterlinearversion dem griechischen Texte zwischen¬
zuschieben, so sind auch jene später benutzten alten und neuen Drucke mit Noten
aller Art angefüllt. Theilweise eigentlich kritischer Natur, Wiederherstellungen
des Textes so zu sagen von innen heraus, ohne sich um die Lesarten des Codex


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/151>, abgerufen am 04.07.2024.