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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band.

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Kunst und Wissenschaft im WuMrthal.

Wie wir in den voraufgegangenen Skizzen das Wupperthal geschildert
haben, muß es ohne weiteres einleuchten, daß hier für wissenschaftliches und
künstlerisches Streben ein ausnehmend ungünstiger Boden ist. Der großen
Masse der Bevölkerung fehlt es dafür schon an der Vorbildung und äußeren
Lage, dem kleinen Neste wenigstens an der Muße. Nur die weibliche Hälfte
der reichen und wohlhabenden Familien hat beides; angesteckt aber von dem
strengen und pedantischen Ernste, der die ganze männliche Bevölkerung zur
Arbeit treibt, vertieft auch die gebildete Frau sich eher in Erziehungssorgen,
als daß sie den Musen opferte. Es ist etwas Ehrwürdiges in der Hingebung,
mit welcher diese Mütter die Ausbildung ihrer Kinder weit über das sonst
übliche Maß von Antheil und Ueberwachung hinaus verfolgen. Wo kommt es
sonst so leicht vor, baß eine hochgebildete, für jeden geistigen Genuß empfäng¬
liche Dame sich von einem Elementarlehrer in eine neue Methode des Lehr¬
unterrichts einweihen läßt, um selbst nachhelfen zu können, anstatt einfach ihre
Zuflucht zu einer weiteren bezahlten Lehrkraft zu nehmen? Hier aber kommt
es nicht allein vor, sondern es fällt nicht einmal auf. Das elterliche Pflicht¬
gefühl ist so lebhaft, wie man es selten findet. Und wohl den Frauen, deren
innerer Drang diese glückliche Bahn einschlägt! Sie wären übel daran, wenn
sie in so starrer, nüchterner Umgebung ihren Herzensfrieden in die Beschäftigung
mit Kunst oder Wissenschaft setzen wollten.

Eine einzige Kunst hat sich bis jetzt im Wupperthale Bürgerrecht erworben:
die Musik. Keine andre konnte sich auf dem Grunde des christlichen Idealismus,
der hier bis heute das stärkste und lebendigste Gegengewicht gegen das Erwerbs¬
und Genußleben des Tages ist, so leicht aufbauen wie sie. Die von ihr er¬
regten Empfindungen haben eine ausgeprägte Verwandtschaft zu den religiösen
Schauern und Ahnungen; und in der hier herrschenden reformirten Kirche wird
sie nicht einmal durch die plastischen Künste ergänzt, sondern waltet ausschlie߬
lich. An die Pflege des Kirchengesangs, die Fülle der unsrer classischen Literatur
voraufgehenden geistlichen Lieder, die Benutzung der Orgel schloß sich weltlicher
Musikbetrieb wie von selber an. Auch trägt derselbe noch heute überwiegend
das ernste Gepräge, das seinem Ursprung und dem ganzen Charakter der Stätte
entspricht.

Man kann den Anfang der musikalischen Bestrebungen Elberfelds zurück-
datiren auf die Anstellung des älteren Schornstein als Organist der reformirten
Gemeinde, welche 1808 erfolgte. Er war weder als Virtuos bedeutend noch


Kunst und Wissenschaft im WuMrthal.

Wie wir in den voraufgegangenen Skizzen das Wupperthal geschildert
haben, muß es ohne weiteres einleuchten, daß hier für wissenschaftliches und
künstlerisches Streben ein ausnehmend ungünstiger Boden ist. Der großen
Masse der Bevölkerung fehlt es dafür schon an der Vorbildung und äußeren
Lage, dem kleinen Neste wenigstens an der Muße. Nur die weibliche Hälfte
der reichen und wohlhabenden Familien hat beides; angesteckt aber von dem
strengen und pedantischen Ernste, der die ganze männliche Bevölkerung zur
Arbeit treibt, vertieft auch die gebildete Frau sich eher in Erziehungssorgen,
als daß sie den Musen opferte. Es ist etwas Ehrwürdiges in der Hingebung,
mit welcher diese Mütter die Ausbildung ihrer Kinder weit über das sonst
übliche Maß von Antheil und Ueberwachung hinaus verfolgen. Wo kommt es
sonst so leicht vor, baß eine hochgebildete, für jeden geistigen Genuß empfäng¬
liche Dame sich von einem Elementarlehrer in eine neue Methode des Lehr¬
unterrichts einweihen läßt, um selbst nachhelfen zu können, anstatt einfach ihre
Zuflucht zu einer weiteren bezahlten Lehrkraft zu nehmen? Hier aber kommt
es nicht allein vor, sondern es fällt nicht einmal auf. Das elterliche Pflicht¬
gefühl ist so lebhaft, wie man es selten findet. Und wohl den Frauen, deren
innerer Drang diese glückliche Bahn einschlägt! Sie wären übel daran, wenn
sie in so starrer, nüchterner Umgebung ihren Herzensfrieden in die Beschäftigung
mit Kunst oder Wissenschaft setzen wollten.

Eine einzige Kunst hat sich bis jetzt im Wupperthale Bürgerrecht erworben:
die Musik. Keine andre konnte sich auf dem Grunde des christlichen Idealismus,
der hier bis heute das stärkste und lebendigste Gegengewicht gegen das Erwerbs¬
und Genußleben des Tages ist, so leicht aufbauen wie sie. Die von ihr er¬
regten Empfindungen haben eine ausgeprägte Verwandtschaft zu den religiösen
Schauern und Ahnungen; und in der hier herrschenden reformirten Kirche wird
sie nicht einmal durch die plastischen Künste ergänzt, sondern waltet ausschlie߬
lich. An die Pflege des Kirchengesangs, die Fülle der unsrer classischen Literatur
voraufgehenden geistlichen Lieder, die Benutzung der Orgel schloß sich weltlicher
Musikbetrieb wie von selber an. Auch trägt derselbe noch heute überwiegend
das ernste Gepräge, das seinem Ursprung und dem ganzen Charakter der Stätte
entspricht.

Man kann den Anfang der musikalischen Bestrebungen Elberfelds zurück-
datiren auf die Anstellung des älteren Schornstein als Organist der reformirten
Gemeinde, welche 1808 erfolgte. Er war weder als Virtuos bedeutend noch


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[0110] Kunst und Wissenschaft im WuMrthal. Wie wir in den voraufgegangenen Skizzen das Wupperthal geschildert haben, muß es ohne weiteres einleuchten, daß hier für wissenschaftliches und künstlerisches Streben ein ausnehmend ungünstiger Boden ist. Der großen Masse der Bevölkerung fehlt es dafür schon an der Vorbildung und äußeren Lage, dem kleinen Neste wenigstens an der Muße. Nur die weibliche Hälfte der reichen und wohlhabenden Familien hat beides; angesteckt aber von dem strengen und pedantischen Ernste, der die ganze männliche Bevölkerung zur Arbeit treibt, vertieft auch die gebildete Frau sich eher in Erziehungssorgen, als daß sie den Musen opferte. Es ist etwas Ehrwürdiges in der Hingebung, mit welcher diese Mütter die Ausbildung ihrer Kinder weit über das sonst übliche Maß von Antheil und Ueberwachung hinaus verfolgen. Wo kommt es sonst so leicht vor, baß eine hochgebildete, für jeden geistigen Genuß empfäng¬ liche Dame sich von einem Elementarlehrer in eine neue Methode des Lehr¬ unterrichts einweihen läßt, um selbst nachhelfen zu können, anstatt einfach ihre Zuflucht zu einer weiteren bezahlten Lehrkraft zu nehmen? Hier aber kommt es nicht allein vor, sondern es fällt nicht einmal auf. Das elterliche Pflicht¬ gefühl ist so lebhaft, wie man es selten findet. Und wohl den Frauen, deren innerer Drang diese glückliche Bahn einschlägt! Sie wären übel daran, wenn sie in so starrer, nüchterner Umgebung ihren Herzensfrieden in die Beschäftigung mit Kunst oder Wissenschaft setzen wollten. Eine einzige Kunst hat sich bis jetzt im Wupperthale Bürgerrecht erworben: die Musik. Keine andre konnte sich auf dem Grunde des christlichen Idealismus, der hier bis heute das stärkste und lebendigste Gegengewicht gegen das Erwerbs¬ und Genußleben des Tages ist, so leicht aufbauen wie sie. Die von ihr er¬ regten Empfindungen haben eine ausgeprägte Verwandtschaft zu den religiösen Schauern und Ahnungen; und in der hier herrschenden reformirten Kirche wird sie nicht einmal durch die plastischen Künste ergänzt, sondern waltet ausschlie߬ lich. An die Pflege des Kirchengesangs, die Fülle der unsrer classischen Literatur voraufgehenden geistlichen Lieder, die Benutzung der Orgel schloß sich weltlicher Musikbetrieb wie von selber an. Auch trägt derselbe noch heute überwiegend das ernste Gepräge, das seinem Ursprung und dem ganzen Charakter der Stätte entspricht. Man kann den Anfang der musikalischen Bestrebungen Elberfelds zurück- datiren auf die Anstellung des älteren Schornstein als Organist der reformirten Gemeinde, welche 1808 erfolgte. Er war weder als Virtuos bedeutend noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_286147/110>, abgerufen am 02.07.2024.