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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Prüfung zeigt sich indessen doch, daß der Herausgeber nicht auf eine formelle
Redaction sich beschränkt hat. Neue Seiten in Michelangelos Charakter treten
in den echten Gedichten hervor, oder schon bekannte sind weit schärfer markirt;
der Neffe war bei seiner Umarbeitung und zumal bei der Auswahl, die er traf,
nicht frei von Tendenz, oder vielmehr er war bemüht, alles, was nach Tendenz
schmeckte, sorgfältig auszuscheiden. Hier hat er noch größere Verschuldung, als
durch die Verstümmelung der Texte.

Vor allem kam bei ihm der politische Charakter Michelangelos zu kurz.
Er theilte daS bekannte Epigramm auf die Nacht, jene Statue am Grabmal der
Medicäer, mit, aber dieses war bereits durch Vasari veröffentlicht. Sonst hat
er nur noch die beiden Sonette auf Dante aufgenommen, und auch sie nicht in
ihrer ursprünglichen Schärfe und Bitterkeit. Dies ist alles. Jetzt besitzen wir
eine weitere Anzahl von Gedichten, welche uns Michelangelo als Bürger, von
politischem Pathos, von Liebe zu Florenz, zur Freiheit erfüllt zeigen. Schon
Vasari war in seiner Lebensbeschreibung bemüht, diese Seite in Michelangelos
Charakter zu verwischen. Er schrieb in Florenz unter der festbegründeten Herr¬
schaft Cofimos und sonnte sich im Glanz des Hofes. Aehnliche Rücksicht mochte
die in Florenz lebende Familie Buonarroti bewegen, sorgfältig von den Pa¬
pieren Michelangelos zurückzuhalten, was dem Herrscherhaus mißliebig sein
konnte.

Sodann ist es Kirche und Religion, welchen gegenüber der Herausgeber
nicht mindere Vorsicht beobachtete. Gedichte, in denen sich persönliche Con¬
flicte mit den Päpsten wiederspiegeln, sind jetzt erst ans Tageslicht getreten;
Ausdrücke, die eine freie religiöse Denkart verrathen, in welchen der Dichter
sich über die herkömmlichen Begriffe von Himmel und Hölle wegsetzt, waren
unterdrückt. Ja bis auf die moralische Ehrenrettung seines Ahn erstreckte
sich die Pietät oder die Aengstlichkeit des Herausgebers. -- Schon bei Leb¬
zeiten war Michelangelo vom Gift der Verleumdung nicht verschont. Seine
Gedichte selbst gaben Anlaß, ihn der griechischen Liebe zu beschuldigen; "als
ob. sagt Condivi, nicht auch der schöne Alkibiades von Sokrates in aller Zucht
geliebt worden wäre." Mit vieler Wärme vertheidigt Condivi den Meister,
dessen Liebe zum schönen Ideal nichts Sinnliches gehabt habe, aus dessen
Mund nie ein unreines Wort hervorgegangen sei und dessen Gegenwart die
Kraft hatte, auch in der Jugend jede unziemliche und ungezügelte Lust zurück¬
zuweisen. Auf weit einfacheren Weg sorgt der Großneffe für den Ruf seines
Vorfahren. Wo ein mißdeutbarer Gedanke ist, entfernt er ihn, aus Be¬
ziehungen auf männliche Schönheit macht er solche auf ein weibliches Ideal, aus
Amici werden animi u. f. w. Alles, "damit die Unwissenheit nicht Grund zu
übler Nachrede fände". Auch nach diesen Seiten ist es also ein ganz gefälsch¬
ter Michelangelo, den uns die bisherige Gedichtsammlung darstellte. Heben


Prüfung zeigt sich indessen doch, daß der Herausgeber nicht auf eine formelle
Redaction sich beschränkt hat. Neue Seiten in Michelangelos Charakter treten
in den echten Gedichten hervor, oder schon bekannte sind weit schärfer markirt;
der Neffe war bei seiner Umarbeitung und zumal bei der Auswahl, die er traf,
nicht frei von Tendenz, oder vielmehr er war bemüht, alles, was nach Tendenz
schmeckte, sorgfältig auszuscheiden. Hier hat er noch größere Verschuldung, als
durch die Verstümmelung der Texte.

Vor allem kam bei ihm der politische Charakter Michelangelos zu kurz.
Er theilte daS bekannte Epigramm auf die Nacht, jene Statue am Grabmal der
Medicäer, mit, aber dieses war bereits durch Vasari veröffentlicht. Sonst hat
er nur noch die beiden Sonette auf Dante aufgenommen, und auch sie nicht in
ihrer ursprünglichen Schärfe und Bitterkeit. Dies ist alles. Jetzt besitzen wir
eine weitere Anzahl von Gedichten, welche uns Michelangelo als Bürger, von
politischem Pathos, von Liebe zu Florenz, zur Freiheit erfüllt zeigen. Schon
Vasari war in seiner Lebensbeschreibung bemüht, diese Seite in Michelangelos
Charakter zu verwischen. Er schrieb in Florenz unter der festbegründeten Herr¬
schaft Cofimos und sonnte sich im Glanz des Hofes. Aehnliche Rücksicht mochte
die in Florenz lebende Familie Buonarroti bewegen, sorgfältig von den Pa¬
pieren Michelangelos zurückzuhalten, was dem Herrscherhaus mißliebig sein
konnte.

Sodann ist es Kirche und Religion, welchen gegenüber der Herausgeber
nicht mindere Vorsicht beobachtete. Gedichte, in denen sich persönliche Con¬
flicte mit den Päpsten wiederspiegeln, sind jetzt erst ans Tageslicht getreten;
Ausdrücke, die eine freie religiöse Denkart verrathen, in welchen der Dichter
sich über die herkömmlichen Begriffe von Himmel und Hölle wegsetzt, waren
unterdrückt. Ja bis auf die moralische Ehrenrettung seines Ahn erstreckte
sich die Pietät oder die Aengstlichkeit des Herausgebers. — Schon bei Leb¬
zeiten war Michelangelo vom Gift der Verleumdung nicht verschont. Seine
Gedichte selbst gaben Anlaß, ihn der griechischen Liebe zu beschuldigen; „als
ob. sagt Condivi, nicht auch der schöne Alkibiades von Sokrates in aller Zucht
geliebt worden wäre." Mit vieler Wärme vertheidigt Condivi den Meister,
dessen Liebe zum schönen Ideal nichts Sinnliches gehabt habe, aus dessen
Mund nie ein unreines Wort hervorgegangen sei und dessen Gegenwart die
Kraft hatte, auch in der Jugend jede unziemliche und ungezügelte Lust zurück¬
zuweisen. Auf weit einfacheren Weg sorgt der Großneffe für den Ruf seines
Vorfahren. Wo ein mißdeutbarer Gedanke ist, entfernt er ihn, aus Be¬
ziehungen auf männliche Schönheit macht er solche auf ein weibliches Ideal, aus
Amici werden animi u. f. w. Alles, „damit die Unwissenheit nicht Grund zu
übler Nachrede fände". Auch nach diesen Seiten ist es also ein ganz gefälsch¬
ter Michelangelo, den uns die bisherige Gedichtsammlung darstellte. Heben


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[0044] Prüfung zeigt sich indessen doch, daß der Herausgeber nicht auf eine formelle Redaction sich beschränkt hat. Neue Seiten in Michelangelos Charakter treten in den echten Gedichten hervor, oder schon bekannte sind weit schärfer markirt; der Neffe war bei seiner Umarbeitung und zumal bei der Auswahl, die er traf, nicht frei von Tendenz, oder vielmehr er war bemüht, alles, was nach Tendenz schmeckte, sorgfältig auszuscheiden. Hier hat er noch größere Verschuldung, als durch die Verstümmelung der Texte. Vor allem kam bei ihm der politische Charakter Michelangelos zu kurz. Er theilte daS bekannte Epigramm auf die Nacht, jene Statue am Grabmal der Medicäer, mit, aber dieses war bereits durch Vasari veröffentlicht. Sonst hat er nur noch die beiden Sonette auf Dante aufgenommen, und auch sie nicht in ihrer ursprünglichen Schärfe und Bitterkeit. Dies ist alles. Jetzt besitzen wir eine weitere Anzahl von Gedichten, welche uns Michelangelo als Bürger, von politischem Pathos, von Liebe zu Florenz, zur Freiheit erfüllt zeigen. Schon Vasari war in seiner Lebensbeschreibung bemüht, diese Seite in Michelangelos Charakter zu verwischen. Er schrieb in Florenz unter der festbegründeten Herr¬ schaft Cofimos und sonnte sich im Glanz des Hofes. Aehnliche Rücksicht mochte die in Florenz lebende Familie Buonarroti bewegen, sorgfältig von den Pa¬ pieren Michelangelos zurückzuhalten, was dem Herrscherhaus mißliebig sein konnte. Sodann ist es Kirche und Religion, welchen gegenüber der Herausgeber nicht mindere Vorsicht beobachtete. Gedichte, in denen sich persönliche Con¬ flicte mit den Päpsten wiederspiegeln, sind jetzt erst ans Tageslicht getreten; Ausdrücke, die eine freie religiöse Denkart verrathen, in welchen der Dichter sich über die herkömmlichen Begriffe von Himmel und Hölle wegsetzt, waren unterdrückt. Ja bis auf die moralische Ehrenrettung seines Ahn erstreckte sich die Pietät oder die Aengstlichkeit des Herausgebers. — Schon bei Leb¬ zeiten war Michelangelo vom Gift der Verleumdung nicht verschont. Seine Gedichte selbst gaben Anlaß, ihn der griechischen Liebe zu beschuldigen; „als ob. sagt Condivi, nicht auch der schöne Alkibiades von Sokrates in aller Zucht geliebt worden wäre." Mit vieler Wärme vertheidigt Condivi den Meister, dessen Liebe zum schönen Ideal nichts Sinnliches gehabt habe, aus dessen Mund nie ein unreines Wort hervorgegangen sei und dessen Gegenwart die Kraft hatte, auch in der Jugend jede unziemliche und ungezügelte Lust zurück¬ zuweisen. Auf weit einfacheren Weg sorgt der Großneffe für den Ruf seines Vorfahren. Wo ein mißdeutbarer Gedanke ist, entfernt er ihn, aus Be¬ ziehungen auf männliche Schönheit macht er solche auf ein weibliches Ideal, aus Amici werden animi u. f. w. Alles, „damit die Unwissenheit nicht Grund zu übler Nachrede fände". Auch nach diesen Seiten ist es also ein ganz gefälsch¬ ter Michelangelo, den uns die bisherige Gedichtsammlung darstellte. Heben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/44>, abgerufen am 22.07.2024.