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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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und praktischen Thätigkeit. Wir alle vermögen jetzt andere zu werden in dem
neuen Hause, stolzer, sicherer und dadurch zuletzt in Wahrheit freier. Das
fühlen Millionen mit uns in freudiger Erhebung.

Es ist in den letzten Wochen oft gesagt worden, daß Preußen diesen großen
Fortschritt vor allem der Zucht verdankt, welche in dem Staate der Hohenzollern
jedem Manne wurde. Seit es eine deutsche Geschichte giebt, wurde Schwäche
und Größe des Deutschen vor anderem durch eine uralte Besonderheit des
deutschen Charakters hervorgebracht. Stets schloß der deutsche Mann sich will¬
kürlich an andere, und bestimmte wählerisch die Hingabe und die Opfer, welche
er bringen wollte, aber sein Pflichtgefühl gegen sein Volk und die gemeinsamen
Interessen war jeder Zeit bei ihm schwach. Seine Hingabe war oft treuer und
völliger als bei den meisten anderen Völkern, aber es war eine freiwillige
Hingabe an Einzelne, an seine Geliebten, an gleichberechtigte Schwurgenossen,
an seinen Herrn oder seinen Heiligen. Diese merkwürdige Richtung auf indivi¬
duelle Freiheit und individuelle Hingabe hat jeden festen Staatsbäu in Deutsch¬
land verhindert. Der Protestantismus, das edelste Resultat dieser alten Anlage,
hat zunächst nur dazu beigetragen, die Jsolirung und Uneinigkeit zu steigern,
bis nach dem dreißigjährigen Kriege das Volk verwüstet und zerschlagen war
und auf ein Bruchtheil seiner frühern Menschenzahl reducirt. Mehr als ISO
Jahre brauchte von da die Nation, um Menschenzahl und arbeitendes Capital so
weit zu vermehren, daß sie wieder unter den Culturvölkern Europas mitzählen
konnte; und wieder störte die altnativnale Richtung auf Absonderung und Ein¬
schluß in kleine Kreise die Zunahme der Volkskraft ebenso sehr als der Mangel
an Menschen und an werdenden Capital. In dieser öden Zeit waren es
die Hohenzollern, welche auf engem Gebiet und wenig ergiebigem, menschen¬
armem Boden zuerst als strenge Haushälter ihren Unterthanen die Selbstwillig-
keit brachen, mit eiserner Hand, zuweilen wunderlich und tyrannisch, aber
arbeitsam und wohlmeinend für ihren kleinen Staat. Sie zwangen ein ver¬
kommenes und verwildertes Geschleckt, dem Staate stark zu steuern, Leben und
Blut für ihn hinzugeben; am größten war dort die Hingabe und Pflichttreue
der Beamten, am vollständigsten die Verwendung des alten Lehensadels im
Landesheere, am unermüdlichsten das gewaltthätige Wohlwollen der Herrscher
für das Ganze und am härtesten der Zwang, in welchen das Privatleben ge¬
schlossen wurde. Aus dieser Königszucht erwuchsen die Erfolge Friedrich des
Großen, durch sie wurde nach schwerer Niederlage die Erhebung von 1813
möglich, sie hat jetzt den bei weitem größten Theil deutschen Bodens preußisch
gemacht.

Diese Zucht war freilich nicht geistlose Dressur und rohe Ausnutzung der
Individuen für den Staat; ihre Erfolge verdankte sie dem unablässigen Heran¬
ziehen der Intelligenz und kluger Verwerthung der liberalen und sittlichen Zeit-


und praktischen Thätigkeit. Wir alle vermögen jetzt andere zu werden in dem
neuen Hause, stolzer, sicherer und dadurch zuletzt in Wahrheit freier. Das
fühlen Millionen mit uns in freudiger Erhebung.

Es ist in den letzten Wochen oft gesagt worden, daß Preußen diesen großen
Fortschritt vor allem der Zucht verdankt, welche in dem Staate der Hohenzollern
jedem Manne wurde. Seit es eine deutsche Geschichte giebt, wurde Schwäche
und Größe des Deutschen vor anderem durch eine uralte Besonderheit des
deutschen Charakters hervorgebracht. Stets schloß der deutsche Mann sich will¬
kürlich an andere, und bestimmte wählerisch die Hingabe und die Opfer, welche
er bringen wollte, aber sein Pflichtgefühl gegen sein Volk und die gemeinsamen
Interessen war jeder Zeit bei ihm schwach. Seine Hingabe war oft treuer und
völliger als bei den meisten anderen Völkern, aber es war eine freiwillige
Hingabe an Einzelne, an seine Geliebten, an gleichberechtigte Schwurgenossen,
an seinen Herrn oder seinen Heiligen. Diese merkwürdige Richtung auf indivi¬
duelle Freiheit und individuelle Hingabe hat jeden festen Staatsbäu in Deutsch¬
land verhindert. Der Protestantismus, das edelste Resultat dieser alten Anlage,
hat zunächst nur dazu beigetragen, die Jsolirung und Uneinigkeit zu steigern,
bis nach dem dreißigjährigen Kriege das Volk verwüstet und zerschlagen war
und auf ein Bruchtheil seiner frühern Menschenzahl reducirt. Mehr als ISO
Jahre brauchte von da die Nation, um Menschenzahl und arbeitendes Capital so
weit zu vermehren, daß sie wieder unter den Culturvölkern Europas mitzählen
konnte; und wieder störte die altnativnale Richtung auf Absonderung und Ein¬
schluß in kleine Kreise die Zunahme der Volkskraft ebenso sehr als der Mangel
an Menschen und an werdenden Capital. In dieser öden Zeit waren es
die Hohenzollern, welche auf engem Gebiet und wenig ergiebigem, menschen¬
armem Boden zuerst als strenge Haushälter ihren Unterthanen die Selbstwillig-
keit brachen, mit eiserner Hand, zuweilen wunderlich und tyrannisch, aber
arbeitsam und wohlmeinend für ihren kleinen Staat. Sie zwangen ein ver¬
kommenes und verwildertes Geschleckt, dem Staate stark zu steuern, Leben und
Blut für ihn hinzugeben; am größten war dort die Hingabe und Pflichttreue
der Beamten, am vollständigsten die Verwendung des alten Lehensadels im
Landesheere, am unermüdlichsten das gewaltthätige Wohlwollen der Herrscher
für das Ganze und am härtesten der Zwang, in welchen das Privatleben ge¬
schlossen wurde. Aus dieser Königszucht erwuchsen die Erfolge Friedrich des
Großen, durch sie wurde nach schwerer Niederlage die Erhebung von 1813
möglich, sie hat jetzt den bei weitem größten Theil deutschen Bodens preußisch
gemacht.

Diese Zucht war freilich nicht geistlose Dressur und rohe Ausnutzung der
Individuen für den Staat; ihre Erfolge verdankte sie dem unablässigen Heran¬
ziehen der Intelligenz und kluger Verwerthung der liberalen und sittlichen Zeit-


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[0348] und praktischen Thätigkeit. Wir alle vermögen jetzt andere zu werden in dem neuen Hause, stolzer, sicherer und dadurch zuletzt in Wahrheit freier. Das fühlen Millionen mit uns in freudiger Erhebung. Es ist in den letzten Wochen oft gesagt worden, daß Preußen diesen großen Fortschritt vor allem der Zucht verdankt, welche in dem Staate der Hohenzollern jedem Manne wurde. Seit es eine deutsche Geschichte giebt, wurde Schwäche und Größe des Deutschen vor anderem durch eine uralte Besonderheit des deutschen Charakters hervorgebracht. Stets schloß der deutsche Mann sich will¬ kürlich an andere, und bestimmte wählerisch die Hingabe und die Opfer, welche er bringen wollte, aber sein Pflichtgefühl gegen sein Volk und die gemeinsamen Interessen war jeder Zeit bei ihm schwach. Seine Hingabe war oft treuer und völliger als bei den meisten anderen Völkern, aber es war eine freiwillige Hingabe an Einzelne, an seine Geliebten, an gleichberechtigte Schwurgenossen, an seinen Herrn oder seinen Heiligen. Diese merkwürdige Richtung auf indivi¬ duelle Freiheit und individuelle Hingabe hat jeden festen Staatsbäu in Deutsch¬ land verhindert. Der Protestantismus, das edelste Resultat dieser alten Anlage, hat zunächst nur dazu beigetragen, die Jsolirung und Uneinigkeit zu steigern, bis nach dem dreißigjährigen Kriege das Volk verwüstet und zerschlagen war und auf ein Bruchtheil seiner frühern Menschenzahl reducirt. Mehr als ISO Jahre brauchte von da die Nation, um Menschenzahl und arbeitendes Capital so weit zu vermehren, daß sie wieder unter den Culturvölkern Europas mitzählen konnte; und wieder störte die altnativnale Richtung auf Absonderung und Ein¬ schluß in kleine Kreise die Zunahme der Volkskraft ebenso sehr als der Mangel an Menschen und an werdenden Capital. In dieser öden Zeit waren es die Hohenzollern, welche auf engem Gebiet und wenig ergiebigem, menschen¬ armem Boden zuerst als strenge Haushälter ihren Unterthanen die Selbstwillig- keit brachen, mit eiserner Hand, zuweilen wunderlich und tyrannisch, aber arbeitsam und wohlmeinend für ihren kleinen Staat. Sie zwangen ein ver¬ kommenes und verwildertes Geschleckt, dem Staate stark zu steuern, Leben und Blut für ihn hinzugeben; am größten war dort die Hingabe und Pflichttreue der Beamten, am vollständigsten die Verwendung des alten Lehensadels im Landesheere, am unermüdlichsten das gewaltthätige Wohlwollen der Herrscher für das Ganze und am härtesten der Zwang, in welchen das Privatleben ge¬ schlossen wurde. Aus dieser Königszucht erwuchsen die Erfolge Friedrich des Großen, durch sie wurde nach schwerer Niederlage die Erhebung von 1813 möglich, sie hat jetzt den bei weitem größten Theil deutschen Bodens preußisch gemacht. Diese Zucht war freilich nicht geistlose Dressur und rohe Ausnutzung der Individuen für den Staat; ihre Erfolge verdankte sie dem unablässigen Heran¬ ziehen der Intelligenz und kluger Verwerthung der liberalen und sittlichen Zeit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/348>, abgerufen am 22.07.2024.