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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Controle möglich war, dann weil dem Gutsbesitzer immer die Möglichkeit blieb,
der Gemeinde einen Theil ihres Grundes, und Bodens zu entziehen und für
die Rückgabe desselben Extraarbeiten zu fordern, blieb es illusorisch.

Noch unerträglicher gestaltete sich die Lage der Leibeignen, als sich, haupt¬
sächlich durch Cancrins Bemühungen, in Rußland eine umfassende Fahrt'thälig-
keit entwickelte. Der Adel legte jetzt in den Städten sowie auf seinen Gütern
industrielle Etablissements aller Art an, die reichen Kaufleute folgten nach, und
nach Verlauf von kaum zwanzig Jahren hatte Rußland bereits Tausende von
Fabriken. Dieselben wurden mit Arbeitskräften versehen, indem die Bevölke¬
rung der Krondörfer freiwillig, die der Adelsdörfer von ihren Herren gezwungen,
in Masse herbeiströmte. Dabei aber verwendeten die Herren ihre Leibeignen
nicht in den eignen Werkstätten, da sich dies als nicht lucrativ genug erwies,
sondern vermietheten sie an Fremde, welche natürlich nicht die mindeste patri¬
archalische Rücksicht auf sie zu nehmen hatten, und so verkümmerten Tausende
dieser Arbeiter in Ueberbürdung und Überarbeitung. Mit jedem Jahre wurde
es klarer, daß hier Abhilfe geschafft und mit dem Bisherigen gründlich aufge¬
räumt werden mußte.

Schon unter dem vorigen Kaiser beschäftigte sich die Regierung wiederholt
mit der Verbesserung des Looses der Bauern, und namentlich Graf Kisselew
hatte schon deren vollständige Befreiung im Auge. Mit besonderem Erfolge
wurde auf Reformen in den westlichen Gouvernements hingewirkt, wo schon
im sechzehnten Jahrhunderte durch sogenannte Inventare die Rechte der Guts¬
besitzer auf die Frohnden und Abgaben der Bauern geregelt worden waren,
eine Einrichtung, welche später vor der Willkür des Adels gewichen war, jetzt
aber wieder eingeführt wurde, wobei man freilich den Nebenzweck verfolgte, das
Band zwischen den kleinrussischen Bauern und ihren polnischen Gutsbesitzern
zu lockern.

Erst unter dem Nachfolger des Kaisers Nikolaus aber begann man im großen
Stil zu reformiren. Zunächst versprach das Manifest vom 29. Januar 1855,
welches den Landsturm aufbot, allen Leibeignen, welche in denselben einträten,
für sich und ihre Familien die Freiheit. Im folgenden März erklärte Alexander
der Zweite in Moskau den Adelsmarschällen seine bestimmte Absicht, die Leib¬
eigenschaft aufzuheben. Bei der Krönungsfeier wurden dann die Lcmdesmar-
schälle in Betreff der Sache sondirr, wobei die großrussischen sich abgeneigt,
die lithauischen dagegen sich den Wünschen des' Kaisers zugänglicher zeigten.
Bald nachher wurde auf den Vorschlag des Ministers des Innern, Lanskoj,
ein geheimes Comite zur Förderung der Angelegenheit gebildet, an wel¬
chem unter andern Rostowzew, Bludow, Baron Korf und Murawiew theil-
nahmen. und dem der Kaiser präsidirte. Dasselbe wurde am 3. Januar 1857
von Alexander mit der Frage eröffnet, ob die Mitglieder es an der Zeit fänden,


Controle möglich war, dann weil dem Gutsbesitzer immer die Möglichkeit blieb,
der Gemeinde einen Theil ihres Grundes, und Bodens zu entziehen und für
die Rückgabe desselben Extraarbeiten zu fordern, blieb es illusorisch.

Noch unerträglicher gestaltete sich die Lage der Leibeignen, als sich, haupt¬
sächlich durch Cancrins Bemühungen, in Rußland eine umfassende Fahrt'thälig-
keit entwickelte. Der Adel legte jetzt in den Städten sowie auf seinen Gütern
industrielle Etablissements aller Art an, die reichen Kaufleute folgten nach, und
nach Verlauf von kaum zwanzig Jahren hatte Rußland bereits Tausende von
Fabriken. Dieselben wurden mit Arbeitskräften versehen, indem die Bevölke¬
rung der Krondörfer freiwillig, die der Adelsdörfer von ihren Herren gezwungen,
in Masse herbeiströmte. Dabei aber verwendeten die Herren ihre Leibeignen
nicht in den eignen Werkstätten, da sich dies als nicht lucrativ genug erwies,
sondern vermietheten sie an Fremde, welche natürlich nicht die mindeste patri¬
archalische Rücksicht auf sie zu nehmen hatten, und so verkümmerten Tausende
dieser Arbeiter in Ueberbürdung und Überarbeitung. Mit jedem Jahre wurde
es klarer, daß hier Abhilfe geschafft und mit dem Bisherigen gründlich aufge¬
räumt werden mußte.

Schon unter dem vorigen Kaiser beschäftigte sich die Regierung wiederholt
mit der Verbesserung des Looses der Bauern, und namentlich Graf Kisselew
hatte schon deren vollständige Befreiung im Auge. Mit besonderem Erfolge
wurde auf Reformen in den westlichen Gouvernements hingewirkt, wo schon
im sechzehnten Jahrhunderte durch sogenannte Inventare die Rechte der Guts¬
besitzer auf die Frohnden und Abgaben der Bauern geregelt worden waren,
eine Einrichtung, welche später vor der Willkür des Adels gewichen war, jetzt
aber wieder eingeführt wurde, wobei man freilich den Nebenzweck verfolgte, das
Band zwischen den kleinrussischen Bauern und ihren polnischen Gutsbesitzern
zu lockern.

Erst unter dem Nachfolger des Kaisers Nikolaus aber begann man im großen
Stil zu reformiren. Zunächst versprach das Manifest vom 29. Januar 1855,
welches den Landsturm aufbot, allen Leibeignen, welche in denselben einträten,
für sich und ihre Familien die Freiheit. Im folgenden März erklärte Alexander
der Zweite in Moskau den Adelsmarschällen seine bestimmte Absicht, die Leib¬
eigenschaft aufzuheben. Bei der Krönungsfeier wurden dann die Lcmdesmar-
schälle in Betreff der Sache sondirr, wobei die großrussischen sich abgeneigt,
die lithauischen dagegen sich den Wünschen des' Kaisers zugänglicher zeigten.
Bald nachher wurde auf den Vorschlag des Ministers des Innern, Lanskoj,
ein geheimes Comite zur Förderung der Angelegenheit gebildet, an wel¬
chem unter andern Rostowzew, Bludow, Baron Korf und Murawiew theil-
nahmen. und dem der Kaiser präsidirte. Dasselbe wurde am 3. Januar 1857
von Alexander mit der Frage eröffnet, ob die Mitglieder es an der Zeit fänden,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/251>, abgerufen am 22.07.2024.