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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band.

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Die erste der vor uns liegenden Schriften nimmt nicht den fluctuirenden
Stand der Tagesereignisse zum Boden ihrer Betrachtung, sondern sie beschäftigt
sich mit dem, was im Wechsel das Bleibende bildet, mit der absoluten Bedeu¬
tung Preußens für Deutschland. AIs ein geruhiger Freund setzt sich der Ver¬
fasser zum Volke, um ohne Leidenschaft und Eiser ein verständiges Wort mit
ihm zu reden, namentlich über das geschichtliche Anrecht Preußens an Deutsch¬
land, über das Recht und den Ernst der Frage, den es jetzt mit ehernem
Munde der Schlachten ans deutsche Volk stellt: Was bin ich dir?

Wie lange schon bildet die deutsche Frage, welche jetzt das Schwert zu
lösen unternimmt, die Tagesordnung des politischen Gedankenaustausches. Den
sauren Wochen der Nation hat sie durch das Bewußtsein der Arbeit für großen
Zweck Trost und Weihe, den frohen Festen hat sie Inhalt und Ernst gegeben;
die Sanguiniker sind durch manche Täuschung ernüchtert, die Pessimisten durch
manchen Erfolg irre gemacht worden; sind wir endlich so weit, um auf jene
Frage gründlich und endgiltig antworten zu können?

Täglich erfahren wir. wie viel daran fehlt. Aber darum ist jedes gute
Wort willkommen, das den Zweck hat, die Gedankennebel zu zerstreuen, welche
uns den schnell fortschreitenden wuchtigen Thatsachen der Iüngstvergangenheit
gegenüber gebannt halten. Besonders wenn dies Wort von einem NichtPreußen
gesprochen wird, wie es hier der Fall ist. Der Verfasser bemüht sich, eine
gründliche Darlegung seiner Meinung vom deutschen Berufe Preußens zu geben
-- zu ausführlich offenbar, um bis ans Ende angehört zu werden, und nicht
energisch genug, um zu zünden; aber denen um so nützlicher, welche gewohnt
sind, das Preußen unserer Tage einer abenteuernden Politik, seine Vertheidiger
des Attentats an der deutschen Geschichte zu zeihen.

Hat sich der Staat des großen Kurfürsten und des großen Friedrich, der
Parvenu von Gottes Gnaden, in schweren Kämpfen Anerkennung seiner Eben¬
bürtigkeit errungen, so ist ihm nun, wie der Verfasser der erwähnten Broschüre
sich ausdrückt, "die Ausgabe Pipins indem merovingischen Frankreich zugetheilt:
er setze seine wirkliche Macht an die Stelle der imaginären des Bundestages."
An die Nation stellt er die Forderung des Anschlusses an den großen Staat
als das Correctiv der Stammesselbstsucht; diesem macht er zur Pflicht, durch
Selbstregierung der Gemeinden das Collectio gegen den centralisirenden Cäsa¬
rismus zu fördern.

Wem die freie Entwickelung berechtigter politischer Individualitäten als
edelstes Gut unserer Geschichte gilt, und wer von dem Hereinwachsen Preußens
in Deutschland dafür Gefahr fürchtet, möge zweierlei prüfen. Zuerst, ob die
selbständigen Bestandtheile Deutschlands, wie sie heute sind, wirklich die Natur
und das Recht politischer Individuen besitzen; und dann, ob der preußische
Staat in Wahrheit nivellirmden Einfluß aus seine eigenen Volkselemente geübt


Die erste der vor uns liegenden Schriften nimmt nicht den fluctuirenden
Stand der Tagesereignisse zum Boden ihrer Betrachtung, sondern sie beschäftigt
sich mit dem, was im Wechsel das Bleibende bildet, mit der absoluten Bedeu¬
tung Preußens für Deutschland. AIs ein geruhiger Freund setzt sich der Ver¬
fasser zum Volke, um ohne Leidenschaft und Eiser ein verständiges Wort mit
ihm zu reden, namentlich über das geschichtliche Anrecht Preußens an Deutsch¬
land, über das Recht und den Ernst der Frage, den es jetzt mit ehernem
Munde der Schlachten ans deutsche Volk stellt: Was bin ich dir?

Wie lange schon bildet die deutsche Frage, welche jetzt das Schwert zu
lösen unternimmt, die Tagesordnung des politischen Gedankenaustausches. Den
sauren Wochen der Nation hat sie durch das Bewußtsein der Arbeit für großen
Zweck Trost und Weihe, den frohen Festen hat sie Inhalt und Ernst gegeben;
die Sanguiniker sind durch manche Täuschung ernüchtert, die Pessimisten durch
manchen Erfolg irre gemacht worden; sind wir endlich so weit, um auf jene
Frage gründlich und endgiltig antworten zu können?

Täglich erfahren wir. wie viel daran fehlt. Aber darum ist jedes gute
Wort willkommen, das den Zweck hat, die Gedankennebel zu zerstreuen, welche
uns den schnell fortschreitenden wuchtigen Thatsachen der Iüngstvergangenheit
gegenüber gebannt halten. Besonders wenn dies Wort von einem NichtPreußen
gesprochen wird, wie es hier der Fall ist. Der Verfasser bemüht sich, eine
gründliche Darlegung seiner Meinung vom deutschen Berufe Preußens zu geben
— zu ausführlich offenbar, um bis ans Ende angehört zu werden, und nicht
energisch genug, um zu zünden; aber denen um so nützlicher, welche gewohnt
sind, das Preußen unserer Tage einer abenteuernden Politik, seine Vertheidiger
des Attentats an der deutschen Geschichte zu zeihen.

Hat sich der Staat des großen Kurfürsten und des großen Friedrich, der
Parvenu von Gottes Gnaden, in schweren Kämpfen Anerkennung seiner Eben¬
bürtigkeit errungen, so ist ihm nun, wie der Verfasser der erwähnten Broschüre
sich ausdrückt, „die Ausgabe Pipins indem merovingischen Frankreich zugetheilt:
er setze seine wirkliche Macht an die Stelle der imaginären des Bundestages."
An die Nation stellt er die Forderung des Anschlusses an den großen Staat
als das Correctiv der Stammesselbstsucht; diesem macht er zur Pflicht, durch
Selbstregierung der Gemeinden das Collectio gegen den centralisirenden Cäsa¬
rismus zu fördern.

Wem die freie Entwickelung berechtigter politischer Individualitäten als
edelstes Gut unserer Geschichte gilt, und wer von dem Hereinwachsen Preußens
in Deutschland dafür Gefahr fürchtet, möge zweierlei prüfen. Zuerst, ob die
selbständigen Bestandtheile Deutschlands, wie sie heute sind, wirklich die Natur
und das Recht politischer Individuen besitzen; und dann, ob der preußische
Staat in Wahrheit nivellirmden Einfluß aus seine eigenen Volkselemente geübt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285587/200>, abgerufen am 22.07.2024.