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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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einen unbegrenzten Glauben an die Güte der menschlichen Natur. Nicht als
Ergebniß der Reflexion, sondern als unmittelbarer Ausfluß seines eignen Ge¬
müths verstand es sich ihm von selbst, daß er jedem helfen müsse, der Hilfe
von ihm begehrte. Natürlich wußte er, daß er oft solchen gab, die eine kältere
Beurtheilung Unwürdige nennt. Ader er konnte sich niemals zu jener selbst¬
süchtigen Berechnung verstehen, die sich hinter dem Mantel einer besonders
ausgebildeten Menschenkenntniß vor den einfachsten Ansprüchen des Gemüths
zu verstecken und zu schützen sucht. Es war ihm genug, wenn der, dem er
gab. durch die Gabe wenigstens für den Augenblick den Eindruck erhielt, daß
ihm die andern Menschen oder wenigstens ein andrer echter Mensch seine Noth
nicht als eine Schuld anrechnete, sondern die Menschenwürde auch in dem
Bettler ehrte. Freilich konnte es nicht fehlen, daß er auf diese Art sehr oft das
Ziel unverschämter Ausbeutung wurde. Zum Glück vermochte diese fast niemals
so große Dimensionen anzunehmen, daß er dabei empfindliche Verluste erlitten
hätte. Würde er mehr im Strome der großen Welt geschwommen sein, als es
ihm in Berlin z. B. möglich geworden ist, so wäre dort seine Harmlosigkeit und
Freigebigkeit auf eine harte Probe gestellt worden. Während des letzten Lebens¬
abschnitts in Rausch war er durch die Abgelegenheit des Orts von selbst
leidlich geschützt, und wenn er hier, wie fniher auf seinen einsamen Wanderun¬
gen ins Freie gelegentlich einmal von einem Wegelagerer, und gewöhnlich an
derselben Stelle seines meist nur nach einer Richtung sich lenkenden Spazierganges
gebrandschatzt wurde, so scherzte er stets darüber bei seiner Zurückkunst. Wurden
einmal gar zu grobe Attentate aus seine Börse versucht, so half er sich mit der
unschuldigen List, nicht mehr Geld als eine mäßige Summe von zu Hause mit¬
zunehmen. War diese verabreicht, so konnte er sich, ohne sich in seinem Gewissen
beschwert zu fühlen, damit entschuldigen, daß er selbst nichts mehr habe. So
lange er aber noch irgendeine Münze bei sich trug, gleichviel welche, stand es
bei ihm als Grundsatz, wenn man so sagen darf, fest, keine" Bettler abzuweisen.

In größtem Umfange und mit schrankenloser Großmuth, Delicatesse und
Beständigkeit wurden von ihm alle die ihn näher angehenden Hilfsbedürftige"
bedacht. Diese Unterstützungen geschahen mit einer solchen zarten Geheimhaltung,
daß selbst die ihm zu allernächst Stehenden selten etwas davon gewahr wurden.
Es verstand sich ohnehin von selbst, daß sie den Schleier der humanster Schonung,
den er selbst darüber breitete, nicht zu lüften wagten, und nur zufällig kam hier
und da etwas von dieser seiner wahrhaft großartigen Freigebigkeit und Opfer-
Willigkeit zu ihrer Kenntniß. Sein ganzes warmes und großes Herz wallte
aus, wenn er einen Freund in Noth wußte: in diesem Falle überwand er auch
alle die Rücksichten der Bequemlichkeit, die ihn sonst wohl von einem schriftlichen
oder mündlichen Verkehr mit andern ihm ferner stehenden oder unbekannten
Personen zurückhielten. So weit sein Einfluß nur irgend zu reichen schien, war


einen unbegrenzten Glauben an die Güte der menschlichen Natur. Nicht als
Ergebniß der Reflexion, sondern als unmittelbarer Ausfluß seines eignen Ge¬
müths verstand es sich ihm von selbst, daß er jedem helfen müsse, der Hilfe
von ihm begehrte. Natürlich wußte er, daß er oft solchen gab, die eine kältere
Beurtheilung Unwürdige nennt. Ader er konnte sich niemals zu jener selbst¬
süchtigen Berechnung verstehen, die sich hinter dem Mantel einer besonders
ausgebildeten Menschenkenntniß vor den einfachsten Ansprüchen des Gemüths
zu verstecken und zu schützen sucht. Es war ihm genug, wenn der, dem er
gab. durch die Gabe wenigstens für den Augenblick den Eindruck erhielt, daß
ihm die andern Menschen oder wenigstens ein andrer echter Mensch seine Noth
nicht als eine Schuld anrechnete, sondern die Menschenwürde auch in dem
Bettler ehrte. Freilich konnte es nicht fehlen, daß er auf diese Art sehr oft das
Ziel unverschämter Ausbeutung wurde. Zum Glück vermochte diese fast niemals
so große Dimensionen anzunehmen, daß er dabei empfindliche Verluste erlitten
hätte. Würde er mehr im Strome der großen Welt geschwommen sein, als es
ihm in Berlin z. B. möglich geworden ist, so wäre dort seine Harmlosigkeit und
Freigebigkeit auf eine harte Probe gestellt worden. Während des letzten Lebens¬
abschnitts in Rausch war er durch die Abgelegenheit des Orts von selbst
leidlich geschützt, und wenn er hier, wie fniher auf seinen einsamen Wanderun¬
gen ins Freie gelegentlich einmal von einem Wegelagerer, und gewöhnlich an
derselben Stelle seines meist nur nach einer Richtung sich lenkenden Spazierganges
gebrandschatzt wurde, so scherzte er stets darüber bei seiner Zurückkunst. Wurden
einmal gar zu grobe Attentate aus seine Börse versucht, so half er sich mit der
unschuldigen List, nicht mehr Geld als eine mäßige Summe von zu Hause mit¬
zunehmen. War diese verabreicht, so konnte er sich, ohne sich in seinem Gewissen
beschwert zu fühlen, damit entschuldigen, daß er selbst nichts mehr habe. So
lange er aber noch irgendeine Münze bei sich trug, gleichviel welche, stand es
bei ihm als Grundsatz, wenn man so sagen darf, fest, keine» Bettler abzuweisen.

In größtem Umfange und mit schrankenloser Großmuth, Delicatesse und
Beständigkeit wurden von ihm alle die ihn näher angehenden Hilfsbedürftige»
bedacht. Diese Unterstützungen geschahen mit einer solchen zarten Geheimhaltung,
daß selbst die ihm zu allernächst Stehenden selten etwas davon gewahr wurden.
Es verstand sich ohnehin von selbst, daß sie den Schleier der humanster Schonung,
den er selbst darüber breitete, nicht zu lüften wagten, und nur zufällig kam hier
und da etwas von dieser seiner wahrhaft großartigen Freigebigkeit und Opfer-
Willigkeit zu ihrer Kenntniß. Sein ganzes warmes und großes Herz wallte
aus, wenn er einen Freund in Noth wußte: in diesem Falle überwand er auch
alle die Rücksichten der Bequemlichkeit, die ihn sonst wohl von einem schriftlichen
oder mündlichen Verkehr mit andern ihm ferner stehenden oder unbekannten
Personen zurückhielten. So weit sein Einfluß nur irgend zu reichen schien, war


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/84>, abgerufen am 28.07.2024.