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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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das Wesen eines Dichters! Er ist ein Hellseher, ein Prophet, der sich bis zur
unsichtbaren Welt erhebt. Dort wählt' er aus den Millionen von Wesen, welche
über die Erde gegangen sind, und deren Andenken sich hier unten verloren
hat, diejenigen aus, welche er im Gedächtniß der Menschen wieder aufleben
lassen will; er spricht mit ihnen, er lauscht ihren Worten, er schreibt, wie sie
es heischen. Die thörichten Menschen halten für dichterische Erfindung, was
nur das Bekenntniß eines unbekannten Verstorbenen ist!"

Doch Dr. Lefebre, das ungläubige pariser Kind, erregt Mr. Dreams
Zorn durch seine fortwährenden Spöttereien. Ihn von seiner Kraft und der
Macht des Magnetismus zu überzeugen, droht dieser, während der Nacht ihn
und seine ganze Vaterstadt Paris nach Amerika, etwa nach Massachussets, zu
versetzen.

Lefebre lacht, und schämt sich, dem Magier eine kleine Besorgniß zu ver¬
rathen, die ihn unwillkürlich überkommt, als ihn dieser eine kleine Pille
schlucken heißt. Er gehorcht und verläßt das Haus unter den sonderbarsten
und merkwürdigsten Hallucinationen. Er fühlt sich groß und leicht -- und seine
Sinne übernatürlich geschärft.--

So erwacht er Morgens -- in Amerika.

Paris ist über Nacht über den Ocean verpflanzt worden, ohne daß nur
einer seiner Bürger im Schlafe gestört worden wäre. Aber die Aufgabe wäre
nur halb gelöst, wenn die Pariser nicht auch amerikcmisirt worden wären. Die
ungeheure Stadt mit den siebenstöckigen Häusern ist umgeworfen und zerrissen
worden. Jede. Etage bildet nun ein Häuschen für sich und um jede Wohnung
zieht sich ein freundlicher Garten. Die Bewohner selbst haben ihr früheres
Leben vergessen, sie sind echte Ncmkees. Der Colonialwaarenhändlcr Leverd ist
Mr. Green. der Banquier Petit ist Mr. Little. der Advocat Rcynau ist Mr. Fox
geworden, und er selbst, Dr. Ren6 Lefebre, heißr Mr. Smith! Ihm allein, dem
ungläubigen Thomas, hat das Schicksal die Erinnerung gelassen; er weiß, daß
er Franzose und Bürger der Hauptstadt der Welt ist. in der sich alle Cultur
und Civilisation gipfelt, und für ihn beginnt deshalb jetzt ein merkwürdiger
Kampf der alten Ideen, in denen er aufgewachsen ist, mit den neuen Ansichten
und Grundsätzen, die ihn rings umgeben.

ES ist das schwer nachzuerzählen; man muß es in dem Buch selbst lesen,
wo sich ein Gemälde voll Leben, Witz und frischer Kraft entrollt. Nichts ist
feiner und komischer, als das fortwährende Entsetze" Lefevre-Smiths, mit welchem
er vor den Einrichtungen seines neuen Vaterlands zurücksehend. Mit Wehmuth
gedenkt er täglich der Zustände seines theuren, ihm entrissenen Frankreich, deren
Lob er nicht laut genug verkünden kann, ein Lob das in seinem Munde zur
bittersten Satire wird.

Smith entsetzt sich zunächst über das amerikanische Haus und seine Bequem-


das Wesen eines Dichters! Er ist ein Hellseher, ein Prophet, der sich bis zur
unsichtbaren Welt erhebt. Dort wählt' er aus den Millionen von Wesen, welche
über die Erde gegangen sind, und deren Andenken sich hier unten verloren
hat, diejenigen aus, welche er im Gedächtniß der Menschen wieder aufleben
lassen will; er spricht mit ihnen, er lauscht ihren Worten, er schreibt, wie sie
es heischen. Die thörichten Menschen halten für dichterische Erfindung, was
nur das Bekenntniß eines unbekannten Verstorbenen ist!"

Doch Dr. Lefebre, das ungläubige pariser Kind, erregt Mr. Dreams
Zorn durch seine fortwährenden Spöttereien. Ihn von seiner Kraft und der
Macht des Magnetismus zu überzeugen, droht dieser, während der Nacht ihn
und seine ganze Vaterstadt Paris nach Amerika, etwa nach Massachussets, zu
versetzen.

Lefebre lacht, und schämt sich, dem Magier eine kleine Besorgniß zu ver¬
rathen, die ihn unwillkürlich überkommt, als ihn dieser eine kleine Pille
schlucken heißt. Er gehorcht und verläßt das Haus unter den sonderbarsten
und merkwürdigsten Hallucinationen. Er fühlt sich groß und leicht — und seine
Sinne übernatürlich geschärft.--

So erwacht er Morgens — in Amerika.

Paris ist über Nacht über den Ocean verpflanzt worden, ohne daß nur
einer seiner Bürger im Schlafe gestört worden wäre. Aber die Aufgabe wäre
nur halb gelöst, wenn die Pariser nicht auch amerikcmisirt worden wären. Die
ungeheure Stadt mit den siebenstöckigen Häusern ist umgeworfen und zerrissen
worden. Jede. Etage bildet nun ein Häuschen für sich und um jede Wohnung
zieht sich ein freundlicher Garten. Die Bewohner selbst haben ihr früheres
Leben vergessen, sie sind echte Ncmkees. Der Colonialwaarenhändlcr Leverd ist
Mr. Green. der Banquier Petit ist Mr. Little. der Advocat Rcynau ist Mr. Fox
geworden, und er selbst, Dr. Ren6 Lefebre, heißr Mr. Smith! Ihm allein, dem
ungläubigen Thomas, hat das Schicksal die Erinnerung gelassen; er weiß, daß
er Franzose und Bürger der Hauptstadt der Welt ist. in der sich alle Cultur
und Civilisation gipfelt, und für ihn beginnt deshalb jetzt ein merkwürdiger
Kampf der alten Ideen, in denen er aufgewachsen ist, mit den neuen Ansichten
und Grundsätzen, die ihn rings umgeben.

ES ist das schwer nachzuerzählen; man muß es in dem Buch selbst lesen,
wo sich ein Gemälde voll Leben, Witz und frischer Kraft entrollt. Nichts ist
feiner und komischer, als das fortwährende Entsetze» Lefevre-Smiths, mit welchem
er vor den Einrichtungen seines neuen Vaterlands zurücksehend. Mit Wehmuth
gedenkt er täglich der Zustände seines theuren, ihm entrissenen Frankreich, deren
Lob er nicht laut genug verkünden kann, ein Lob das in seinem Munde zur
bittersten Satire wird.

Smith entsetzt sich zunächst über das amerikanische Haus und seine Bequem-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/546>, abgerufen am 28.07.2024.