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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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man bald vom Papstthum bald von einem Parlament die Verwirklichung der
Einheit erwartete, hatte Oestreich gute Tage. Und noch im Jahr 1848 war
die Bewegung zum großen Theil daran gescheitert, daß die Italiener mit falschen
Factoren rechneten und die Identität ihrer Interessen mit denen Piemonts
verkannten.

Freilich hatte das Mißtrauen, das lange so verhängnißvoll war, seinen
guten Grund. Von Anfang an ging ein unseliger Zwiespalt durch die Politik
Piemonts. Es war sich seines nationalen Berufs gegen Oestreich bewußt, und
es verfiel in eine reactionäre innere Politik, die es über kurz oder lang zum
Verbündeten, zum Vasallen desselben Oestreichs machen mußte. Es war der
einzige nationale Staat und es war zugleich der reactionäre Musterstaat. Nicht
daß es wohl später unter dem Einfluß Oestreichs in dessen Wege gezogen
wurde, sondern schon zur Zeit, als es noch seine nationalen Ansprüche mit
Würde behauptete, hatte es mit völliger Naivetät in die alten feudalen Bahnen
zurückgelenkt. Niemand sah Arges darin, nur vereinzelt stößt uns in den aus¬
gezeichneten Relationen der piemontesischen Diplomaten eine Bemerkung auf,
welche das Bewußtsein verräth, daß man, um der Vertreter der italienischen
Nationalität zu sein, einen Rückhalt in der öffentlichen Meinung Italiens be¬
sitzen müsse. Mit einer Consequenz, die kaum anderswo erreicht wurde, mit
wahrer Virtuosität waren die Räthe Victor Emanuels bestrebt, alle Spuren
der französischen Zeit kurzweg auszulöschen, mit Ausnahme freilich der von den
Franzosen eingeführten Polizei- und Steuerorganisation. Ein toller Karneval
der Reaction brach mit der Rückkehr der Dynastie an. Mit dem Edict vom
21. Mai 1814, das die königlichen Constitutionen von 1770 und sämmtliche bis
zum Jahr 1800 erflossenen königlichen Verordnungen wieder in Kraft setzte, wurde
der Rechtszustand des Landes, in welchem 16 Jahre lang der Code Napoleon
geherrscht hatte, plötzlich ins vergangene Jahrhundert zurückgeschnellt, und nicht
blos die Borden und Quasten und Bandeliere, die Kamaschen, Perücken und
Zöpfe, die Livreen, die Baronen-, Grafen- und Marchesentitel lebten plötzlich
wieder auf, sondern mit einem Schlag waren auch die Klöster, Zehnten, Com-
thureien, Primogenituren, Fideicommisse, die königlichen Freibriefe, Privilegien
aller Art und Mönchsorden aller Farben wiederhergestellt, die Gerichtssporteln,
die Ausnahmsgerichte für Hof, Militär und Klerus, das Protestantenverbot, die
Inquisitionen, die Stockschläge, die Tortur, das Rad, die Viertheilungen. Eine
durchgreifende Epuration der Beamtenwelt wurde vorgenommen und durch einen
kühnen Federzug der Personalbestand auf den Staatskalender von 1798 zurück¬
geführt, so daß plötzlich eine Menge Aemter ohne Beamten. Beamte ohne
Aemter waren. Um das Heer wiederherzustellen, wurden die Soldaten und
Unteroffiziere von 1800, soweit sie noch am Leben waren, wieder einberufen,
die Offiziere, die bei Austerlitz und Moskau gekämpft, entweder entlassen oder


man bald vom Papstthum bald von einem Parlament die Verwirklichung der
Einheit erwartete, hatte Oestreich gute Tage. Und noch im Jahr 1848 war
die Bewegung zum großen Theil daran gescheitert, daß die Italiener mit falschen
Factoren rechneten und die Identität ihrer Interessen mit denen Piemonts
verkannten.

Freilich hatte das Mißtrauen, das lange so verhängnißvoll war, seinen
guten Grund. Von Anfang an ging ein unseliger Zwiespalt durch die Politik
Piemonts. Es war sich seines nationalen Berufs gegen Oestreich bewußt, und
es verfiel in eine reactionäre innere Politik, die es über kurz oder lang zum
Verbündeten, zum Vasallen desselben Oestreichs machen mußte. Es war der
einzige nationale Staat und es war zugleich der reactionäre Musterstaat. Nicht
daß es wohl später unter dem Einfluß Oestreichs in dessen Wege gezogen
wurde, sondern schon zur Zeit, als es noch seine nationalen Ansprüche mit
Würde behauptete, hatte es mit völliger Naivetät in die alten feudalen Bahnen
zurückgelenkt. Niemand sah Arges darin, nur vereinzelt stößt uns in den aus¬
gezeichneten Relationen der piemontesischen Diplomaten eine Bemerkung auf,
welche das Bewußtsein verräth, daß man, um der Vertreter der italienischen
Nationalität zu sein, einen Rückhalt in der öffentlichen Meinung Italiens be¬
sitzen müsse. Mit einer Consequenz, die kaum anderswo erreicht wurde, mit
wahrer Virtuosität waren die Räthe Victor Emanuels bestrebt, alle Spuren
der französischen Zeit kurzweg auszulöschen, mit Ausnahme freilich der von den
Franzosen eingeführten Polizei- und Steuerorganisation. Ein toller Karneval
der Reaction brach mit der Rückkehr der Dynastie an. Mit dem Edict vom
21. Mai 1814, das die königlichen Constitutionen von 1770 und sämmtliche bis
zum Jahr 1800 erflossenen königlichen Verordnungen wieder in Kraft setzte, wurde
der Rechtszustand des Landes, in welchem 16 Jahre lang der Code Napoleon
geherrscht hatte, plötzlich ins vergangene Jahrhundert zurückgeschnellt, und nicht
blos die Borden und Quasten und Bandeliere, die Kamaschen, Perücken und
Zöpfe, die Livreen, die Baronen-, Grafen- und Marchesentitel lebten plötzlich
wieder auf, sondern mit einem Schlag waren auch die Klöster, Zehnten, Com-
thureien, Primogenituren, Fideicommisse, die königlichen Freibriefe, Privilegien
aller Art und Mönchsorden aller Farben wiederhergestellt, die Gerichtssporteln,
die Ausnahmsgerichte für Hof, Militär und Klerus, das Protestantenverbot, die
Inquisitionen, die Stockschläge, die Tortur, das Rad, die Viertheilungen. Eine
durchgreifende Epuration der Beamtenwelt wurde vorgenommen und durch einen
kühnen Federzug der Personalbestand auf den Staatskalender von 1798 zurück¬
geführt, so daß plötzlich eine Menge Aemter ohne Beamten. Beamte ohne
Aemter waren. Um das Heer wiederherzustellen, wurden die Soldaten und
Unteroffiziere von 1800, soweit sie noch am Leben waren, wieder einberufen,
die Offiziere, die bei Austerlitz und Moskau gekämpft, entweder entlassen oder


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[0444] man bald vom Papstthum bald von einem Parlament die Verwirklichung der Einheit erwartete, hatte Oestreich gute Tage. Und noch im Jahr 1848 war die Bewegung zum großen Theil daran gescheitert, daß die Italiener mit falschen Factoren rechneten und die Identität ihrer Interessen mit denen Piemonts verkannten. Freilich hatte das Mißtrauen, das lange so verhängnißvoll war, seinen guten Grund. Von Anfang an ging ein unseliger Zwiespalt durch die Politik Piemonts. Es war sich seines nationalen Berufs gegen Oestreich bewußt, und es verfiel in eine reactionäre innere Politik, die es über kurz oder lang zum Verbündeten, zum Vasallen desselben Oestreichs machen mußte. Es war der einzige nationale Staat und es war zugleich der reactionäre Musterstaat. Nicht daß es wohl später unter dem Einfluß Oestreichs in dessen Wege gezogen wurde, sondern schon zur Zeit, als es noch seine nationalen Ansprüche mit Würde behauptete, hatte es mit völliger Naivetät in die alten feudalen Bahnen zurückgelenkt. Niemand sah Arges darin, nur vereinzelt stößt uns in den aus¬ gezeichneten Relationen der piemontesischen Diplomaten eine Bemerkung auf, welche das Bewußtsein verräth, daß man, um der Vertreter der italienischen Nationalität zu sein, einen Rückhalt in der öffentlichen Meinung Italiens be¬ sitzen müsse. Mit einer Consequenz, die kaum anderswo erreicht wurde, mit wahrer Virtuosität waren die Räthe Victor Emanuels bestrebt, alle Spuren der französischen Zeit kurzweg auszulöschen, mit Ausnahme freilich der von den Franzosen eingeführten Polizei- und Steuerorganisation. Ein toller Karneval der Reaction brach mit der Rückkehr der Dynastie an. Mit dem Edict vom 21. Mai 1814, das die königlichen Constitutionen von 1770 und sämmtliche bis zum Jahr 1800 erflossenen königlichen Verordnungen wieder in Kraft setzte, wurde der Rechtszustand des Landes, in welchem 16 Jahre lang der Code Napoleon geherrscht hatte, plötzlich ins vergangene Jahrhundert zurückgeschnellt, und nicht blos die Borden und Quasten und Bandeliere, die Kamaschen, Perücken und Zöpfe, die Livreen, die Baronen-, Grafen- und Marchesentitel lebten plötzlich wieder auf, sondern mit einem Schlag waren auch die Klöster, Zehnten, Com- thureien, Primogenituren, Fideicommisse, die königlichen Freibriefe, Privilegien aller Art und Mönchsorden aller Farben wiederhergestellt, die Gerichtssporteln, die Ausnahmsgerichte für Hof, Militär und Klerus, das Protestantenverbot, die Inquisitionen, die Stockschläge, die Tortur, das Rad, die Viertheilungen. Eine durchgreifende Epuration der Beamtenwelt wurde vorgenommen und durch einen kühnen Federzug der Personalbestand auf den Staatskalender von 1798 zurück¬ geführt, so daß plötzlich eine Menge Aemter ohne Beamten. Beamte ohne Aemter waren. Um das Heer wiederherzustellen, wurden die Soldaten und Unteroffiziere von 1800, soweit sie noch am Leben waren, wieder einberufen, die Offiziere, die bei Austerlitz und Moskau gekämpft, entweder entlassen oder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/444>, abgerufen am 28.07.2024.