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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band.

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Hinterfenster ein- und ausgestiegen, forderte sie nunmehr, daß man ihr bei Hellem
Tage die Hausthür offen halte.

Der Geist der Freiheit serner, der in diesen großen Tagen die einheitliche
Organisation der Kirche sprengte, die Mönche ihrer Gelübde entband, sich gegen
alle alten Autoritäten auflehnte und selbst den Bauer versuchen ließ, seine
Kette zu brechen, der Geist der Gleichheit vor Gott, der Alle zu Priestern er¬
klärte und auch den Armen mit Selbstgefühl erfüllte, ergriff mit Macht auch
die Lehrlinge und Gesellen der gelehrten Zünfte, gab ihnen stolzere Haltung
und verdoppelte in ihnen neben dem natürlichen Hang zum Schwärmen in die
Ferne hinaus, der schon im Mittelalter manche von ihnen den fahrenden Leuten
zugesellt, die ebenfalls der Jugend eigne Neigung zu unbotmäßigem Gebahren
und keckem Auftreten. Der klösterliche Zwang der Bursenregcln ließ sich nicht
mehr aufrecht erhalten. Von Jahr zu Jahr mehrten sich die Ausnahmen, die
man gestatten mußte. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren die
Bursen der meisten hohen Schulen entweder eingegangen oder, soweit sie öffent¬
liches Eigenthum, zu bloßen Versorgungsanstalten für den ärmern Theil der
Studirenden geworden. Die inzwischen neu entstandenen Universitäten aber
hatten meist solche Institute gleich gar nicht gegründet.

Die Disciplin schüttelte darüber den grauen Kopf und von ihrem Stand¬
punkt nicht ohne Ursache; sie suchte damit zu helfen, daß sie die ankommenden
Musenjünger nöthigte, sich aus den älteren Studenten und den jüngeren Ma¬
gistern Mentoren und Präceptoren zu wählen, welche die Mores derselben in
Obhut nehmen sollten; aber in vielen Fällen setzte sie damit den Bock zum
Gärtner, und im Allgemeinen wurde dadurch nur ein neuer Uebelstand, die Ver-
ängerung der Beanität oder der Pennalismus geschaffen, der, als die erste Auf¬
regung der Reformationszeit sich gelegt, und noch mehr im siebzehnten Jahr¬
hundert zu unerhörter Tyrannei führte.

Und wie mit dem Herbergszwang, so machte die neue Zeit auch mit dem
Zwang zu den scholastischen Exercitien für Viele ein Ende. Erst einzeln,
dann in Menge blieben die Scholaren von den dürren Disputationen der alten
Magisterschaft weg und liefen den "Poeten" zu, um singen, oder den neuen
Schulmeistern, um gutes Latein und das vornehme Griechisch zu lernen. Aus
dem niedern Volke herauf strömte es in Gestalt von kleinen bettelnden Schützen
und alten handwerksburschenhaften Bachanten nach derselben Richtung. Mancher
verkam dabei in früher Jugend, andere wieder brachten es nach saurer und
wilder Zeit zu hohen Jahren und ziemlichen Ehren.

Der Protestantismus war endlich eine Revolution, war die streitende
Kirche. Auch die Studenten, die sich ihm anschlössen, hatten an diesem Ver¬
hältniß Antheil, ganz besonders aber, wie sich bei rascher und unüberlegsamcr
Jugend von selbst versteht, an den Schattenseiten und Ausschreitungen desselben.


Hinterfenster ein- und ausgestiegen, forderte sie nunmehr, daß man ihr bei Hellem
Tage die Hausthür offen halte.

Der Geist der Freiheit serner, der in diesen großen Tagen die einheitliche
Organisation der Kirche sprengte, die Mönche ihrer Gelübde entband, sich gegen
alle alten Autoritäten auflehnte und selbst den Bauer versuchen ließ, seine
Kette zu brechen, der Geist der Gleichheit vor Gott, der Alle zu Priestern er¬
klärte und auch den Armen mit Selbstgefühl erfüllte, ergriff mit Macht auch
die Lehrlinge und Gesellen der gelehrten Zünfte, gab ihnen stolzere Haltung
und verdoppelte in ihnen neben dem natürlichen Hang zum Schwärmen in die
Ferne hinaus, der schon im Mittelalter manche von ihnen den fahrenden Leuten
zugesellt, die ebenfalls der Jugend eigne Neigung zu unbotmäßigem Gebahren
und keckem Auftreten. Der klösterliche Zwang der Bursenregcln ließ sich nicht
mehr aufrecht erhalten. Von Jahr zu Jahr mehrten sich die Ausnahmen, die
man gestatten mußte. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren die
Bursen der meisten hohen Schulen entweder eingegangen oder, soweit sie öffent¬
liches Eigenthum, zu bloßen Versorgungsanstalten für den ärmern Theil der
Studirenden geworden. Die inzwischen neu entstandenen Universitäten aber
hatten meist solche Institute gleich gar nicht gegründet.

Die Disciplin schüttelte darüber den grauen Kopf und von ihrem Stand¬
punkt nicht ohne Ursache; sie suchte damit zu helfen, daß sie die ankommenden
Musenjünger nöthigte, sich aus den älteren Studenten und den jüngeren Ma¬
gistern Mentoren und Präceptoren zu wählen, welche die Mores derselben in
Obhut nehmen sollten; aber in vielen Fällen setzte sie damit den Bock zum
Gärtner, und im Allgemeinen wurde dadurch nur ein neuer Uebelstand, die Ver-
ängerung der Beanität oder der Pennalismus geschaffen, der, als die erste Auf¬
regung der Reformationszeit sich gelegt, und noch mehr im siebzehnten Jahr¬
hundert zu unerhörter Tyrannei führte.

Und wie mit dem Herbergszwang, so machte die neue Zeit auch mit dem
Zwang zu den scholastischen Exercitien für Viele ein Ende. Erst einzeln,
dann in Menge blieben die Scholaren von den dürren Disputationen der alten
Magisterschaft weg und liefen den „Poeten" zu, um singen, oder den neuen
Schulmeistern, um gutes Latein und das vornehme Griechisch zu lernen. Aus
dem niedern Volke herauf strömte es in Gestalt von kleinen bettelnden Schützen
und alten handwerksburschenhaften Bachanten nach derselben Richtung. Mancher
verkam dabei in früher Jugend, andere wieder brachten es nach saurer und
wilder Zeit zu hohen Jahren und ziemlichen Ehren.

Der Protestantismus war endlich eine Revolution, war die streitende
Kirche. Auch die Studenten, die sich ihm anschlössen, hatten an diesem Ver¬
hältniß Antheil, ganz besonders aber, wie sich bei rascher und unüberlegsamcr
Jugend von selbst versteht, an den Schattenseiten und Ausschreitungen desselben.


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[0322] Hinterfenster ein- und ausgestiegen, forderte sie nunmehr, daß man ihr bei Hellem Tage die Hausthür offen halte. Der Geist der Freiheit serner, der in diesen großen Tagen die einheitliche Organisation der Kirche sprengte, die Mönche ihrer Gelübde entband, sich gegen alle alten Autoritäten auflehnte und selbst den Bauer versuchen ließ, seine Kette zu brechen, der Geist der Gleichheit vor Gott, der Alle zu Priestern er¬ klärte und auch den Armen mit Selbstgefühl erfüllte, ergriff mit Macht auch die Lehrlinge und Gesellen der gelehrten Zünfte, gab ihnen stolzere Haltung und verdoppelte in ihnen neben dem natürlichen Hang zum Schwärmen in die Ferne hinaus, der schon im Mittelalter manche von ihnen den fahrenden Leuten zugesellt, die ebenfalls der Jugend eigne Neigung zu unbotmäßigem Gebahren und keckem Auftreten. Der klösterliche Zwang der Bursenregcln ließ sich nicht mehr aufrecht erhalten. Von Jahr zu Jahr mehrten sich die Ausnahmen, die man gestatten mußte. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts waren die Bursen der meisten hohen Schulen entweder eingegangen oder, soweit sie öffent¬ liches Eigenthum, zu bloßen Versorgungsanstalten für den ärmern Theil der Studirenden geworden. Die inzwischen neu entstandenen Universitäten aber hatten meist solche Institute gleich gar nicht gegründet. Die Disciplin schüttelte darüber den grauen Kopf und von ihrem Stand¬ punkt nicht ohne Ursache; sie suchte damit zu helfen, daß sie die ankommenden Musenjünger nöthigte, sich aus den älteren Studenten und den jüngeren Ma¬ gistern Mentoren und Präceptoren zu wählen, welche die Mores derselben in Obhut nehmen sollten; aber in vielen Fällen setzte sie damit den Bock zum Gärtner, und im Allgemeinen wurde dadurch nur ein neuer Uebelstand, die Ver- ängerung der Beanität oder der Pennalismus geschaffen, der, als die erste Auf¬ regung der Reformationszeit sich gelegt, und noch mehr im siebzehnten Jahr¬ hundert zu unerhörter Tyrannei führte. Und wie mit dem Herbergszwang, so machte die neue Zeit auch mit dem Zwang zu den scholastischen Exercitien für Viele ein Ende. Erst einzeln, dann in Menge blieben die Scholaren von den dürren Disputationen der alten Magisterschaft weg und liefen den „Poeten" zu, um singen, oder den neuen Schulmeistern, um gutes Latein und das vornehme Griechisch zu lernen. Aus dem niedern Volke herauf strömte es in Gestalt von kleinen bettelnden Schützen und alten handwerksburschenhaften Bachanten nach derselben Richtung. Mancher verkam dabei in früher Jugend, andere wieder brachten es nach saurer und wilder Zeit zu hohen Jahren und ziemlichen Ehren. Der Protestantismus war endlich eine Revolution, war die streitende Kirche. Auch die Studenten, die sich ihm anschlössen, hatten an diesem Ver¬ hältniß Antheil, ganz besonders aber, wie sich bei rascher und unüberlegsamcr Jugend von selbst versteht, an den Schattenseiten und Ausschreitungen desselben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_285025/322>, abgerufen am 28.07.2024.