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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Production auf, er mußte sich die im Ganzen epische Stimmung der imponirenden
Momente erst durch die weitläufige Reflexion in das Dramatische umsetzen, erst
durch kühles Nachdenken über die innre Verbindung seiner Bilder wurde ihm
der Zusammenhang der Handlung deutlich. Auch dieses Verfahren ist nicht
das gemeingiltige für den dramatischen Dichter. Leicht und freudig soll dieser
bei jedem seiner Charaktere den tiefen Grund ihres Wesens empfinden. In solcher
sichern Empfindung ihrer Eigenthümlichkeit lässt er sie sprechen, was je nach
dem Antheil, den sie an der Handlung haben, nothwendig ist. Er überlegt in
der Regel gar nicht, ob ihre Worte charakteristisch sind und ob die Personen
an der einzelnen Stelle so oder anders zu tragiren haben, was er sie sagen
heißt, wird von selbst charakteristisch und für >die Scene bedeutsam, wenn er
ihr dramatisches Leben sicher in sich trägt und weiß, wo die einzelne Scene
hinaus will. Schreibt er die Reden nieder, so erscheinen sie ihm als selbst¬
verständlich und nothwendig, und erst wenn er das Geschriebenein kalter Stim¬
mung wieder liest, wird er neben Unfertigen vielleicht überrascht merken, wie
genau er grade das Charakteristische ausgedrückt hat. Mit gleicher Naturnoth¬
wendigkeit erfindet er die Handlung. In demselben Augenblick, wo ihm die
Wirkungen einer Scene nach der andern aufgehen und die heitere Arbeit
des Schaffens ihn hebt, fühlt er sich auch durch die einzelnen Wirkungen gerührt
und erschüttert, und doch schwebt über der wogenden Strömung in seiner Seele
klar, bewußt und zweckvoll sein Geist, die geschäftige Empfindung leitend und
Schritt für Schritt zu deutlichem Ziele führend. Jeder Dichter hat Stunden,
wo er sein werdendes Werk zweifelnd mit kritischen Augen betrachtet. Vielleicht ver¬
sagt jedem die schöpferische Kraft einmal gutwillige Ausführung einzelner Situa¬
tionen, über anderes ist sie flüchtig weggehuscht, und er muß sich reflectirend klar
machen, daß es hier und da fehlt, und muß den schöpferischen Trieb gewissermaßen
zur Thätigkeit zwingen. In der Hauptsache aber wird ihm die freiste Beherrschung
des Stoffes und das kräftigste Gestalten genau und völlig zusammenfallen.
Deshalb wird den meisten Dichtern auch längere reflectirende Niederschrift über
einen Stoff, für den sie warm geworden sind, widerstehen. Sie mögen vor
der Arbeit historische Studien machen, bis die Charaktere und die Zeitfarbe in
ihnen lebendig geworden sind; von diesem Augenblicke aber an wird das Ge¬
stalten selbst ihnen so sehr Hauptsache sein, daß alles weitere Erörtern der ästhe¬
tischen Grundsätze stört. Wer die Dramen Shakespeares, auch Goethes und
Schillers betrachtet, dem wird zweifellos, daß sie frisch dem Quell, der aus
geheimen Tiefen der Seele entsprang, vertrauten, und zu gleicher Zeit Kritiker
und Schöpfer waren, ein kurzes oder ausgeführtes sacrarium vor sich.

Daß Otto Ludwig so sehr anders schuf und durch massenhaften Apparat
dem Geheimniß dramatischer Gestaltung nachging, ist auch aus seinen Dramen
und Novellen zu erkennen. Von höchster Poesie sind einzelne Situationen: die


Production auf, er mußte sich die im Ganzen epische Stimmung der imponirenden
Momente erst durch die weitläufige Reflexion in das Dramatische umsetzen, erst
durch kühles Nachdenken über die innre Verbindung seiner Bilder wurde ihm
der Zusammenhang der Handlung deutlich. Auch dieses Verfahren ist nicht
das gemeingiltige für den dramatischen Dichter. Leicht und freudig soll dieser
bei jedem seiner Charaktere den tiefen Grund ihres Wesens empfinden. In solcher
sichern Empfindung ihrer Eigenthümlichkeit lässt er sie sprechen, was je nach
dem Antheil, den sie an der Handlung haben, nothwendig ist. Er überlegt in
der Regel gar nicht, ob ihre Worte charakteristisch sind und ob die Personen
an der einzelnen Stelle so oder anders zu tragiren haben, was er sie sagen
heißt, wird von selbst charakteristisch und für >die Scene bedeutsam, wenn er
ihr dramatisches Leben sicher in sich trägt und weiß, wo die einzelne Scene
hinaus will. Schreibt er die Reden nieder, so erscheinen sie ihm als selbst¬
verständlich und nothwendig, und erst wenn er das Geschriebenein kalter Stim¬
mung wieder liest, wird er neben Unfertigen vielleicht überrascht merken, wie
genau er grade das Charakteristische ausgedrückt hat. Mit gleicher Naturnoth¬
wendigkeit erfindet er die Handlung. In demselben Augenblick, wo ihm die
Wirkungen einer Scene nach der andern aufgehen und die heitere Arbeit
des Schaffens ihn hebt, fühlt er sich auch durch die einzelnen Wirkungen gerührt
und erschüttert, und doch schwebt über der wogenden Strömung in seiner Seele
klar, bewußt und zweckvoll sein Geist, die geschäftige Empfindung leitend und
Schritt für Schritt zu deutlichem Ziele führend. Jeder Dichter hat Stunden,
wo er sein werdendes Werk zweifelnd mit kritischen Augen betrachtet. Vielleicht ver¬
sagt jedem die schöpferische Kraft einmal gutwillige Ausführung einzelner Situa¬
tionen, über anderes ist sie flüchtig weggehuscht, und er muß sich reflectirend klar
machen, daß es hier und da fehlt, und muß den schöpferischen Trieb gewissermaßen
zur Thätigkeit zwingen. In der Hauptsache aber wird ihm die freiste Beherrschung
des Stoffes und das kräftigste Gestalten genau und völlig zusammenfallen.
Deshalb wird den meisten Dichtern auch längere reflectirende Niederschrift über
einen Stoff, für den sie warm geworden sind, widerstehen. Sie mögen vor
der Arbeit historische Studien machen, bis die Charaktere und die Zeitfarbe in
ihnen lebendig geworden sind; von diesem Augenblicke aber an wird das Ge¬
stalten selbst ihnen so sehr Hauptsache sein, daß alles weitere Erörtern der ästhe¬
tischen Grundsätze stört. Wer die Dramen Shakespeares, auch Goethes und
Schillers betrachtet, dem wird zweifellos, daß sie frisch dem Quell, der aus
geheimen Tiefen der Seele entsprang, vertrauten, und zu gleicher Zeit Kritiker
und Schöpfer waren, ein kurzes oder ausgeführtes sacrarium vor sich.

Daß Otto Ludwig so sehr anders schuf und durch massenhaften Apparat
dem Geheimniß dramatischer Gestaltung nachging, ist auch aus seinen Dramen
und Novellen zu erkennen. Von höchster Poesie sind einzelne Situationen: die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/63>, abgerufen am 29.06.2024.