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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Untersuchungen widmeten, aber fast alle nahmen mit naiver Gläubigkeit die
überlieferten Ergebnisse der Mathematik, Astronomie und Physik hin und be¬
mühten sich nur, sie mit den sonst gewonnenen Anschauungen vom Wesen der
Dinge, vom menschlichen Geiste und von der Natur der Gottheit zu verschmelzen,
was dann eine sehr phantastische Naturphilosophie gab. Im Ganzen aber
standen die großen religiösen und sittlichen Fragen der Zeit zu sehr im Vorder¬
grunde, zitterten die Geister zu sehr von der Aufregung, welche durch Kirche
und Reich ging, als daß man die Sammlung und die sichere Hand zu jener
kaltblütigen Einzelarbeit hätte finden können, durch welche die positive Erkenntniß
der Natur später so ungeheure Fortschritte machte.

Am meisten geschah auf diesem Gebiete damals in der Mathematik und
Himmelskunde. Regiomontanus und sein Schüler Walter erfanden In¬
strumente, mit denen sie die Beobachtungen des Ptolemäus und Hipparchus
erneuerten, und als sie die Unrichtigkeit der astronomischen Tafeln erkannt,'
deren man sich bis auf ihre Zeit bedient hatte, berechneten sie neue. Ihnen
folgte Stöfflcr, der Gründer der mathematischen Schule in Tübingen, der
die Arbeiten seiner Vorgänger popularisirtc. indem er das, was die Astronomen
Ephemeriden nannten, zum Kalender machte. Er hielt an der Universität
Schwabens stark besuchte Vorlesungen über Sternkunde und mathematische und
physische Geographie, die um so werthvoller waren, als es damals über diese
Gegenstände noch keine Bücher gab. und er war zugleich ein geschickter Mecha¬
niker. Nach ihm ist sein Schüler Sebastian Münster zu nennen, der später
in Basel für die Geographie wirkte. Einem deutschen Gelehrten dieser Zeit
endlich war es vorbehalten, zu entdecken, daß die Menschheit hinsichtlich dessen,
was wir täglich glänzend am Himmel sehen, von Anbeginn der Geschichte den
Schein für die Wahrheit gehalten hatte. Der Preuße Kopernikus bewies,
daß die Sonne still steht, die Erde sich um sie bewegt, daß nicht diese, sondern
jene das Centrum unsres Planetensystems ist. 1507 schon machte er die Be-
' obachtungen und Rechnungen bekannt, auf die er sein großes Werk über die
Umdrehungen der Himmelskörper zu gründen gedachte, 1530 hatte er dasselbe
im Wesentlichen vollendet, aber erst 1543 erschien es im Druck, und Schulen
und Universitäten gingen noch jahrelang mit Ptolemäus und dem Buch Josua
in der Irre.

Wie viel oder wie wenig die neue Bildung gegen das Ende des zweiten
Decenniums auf eine der vornehmster, deutschen Universitäten des Mittelalters
gewirkt hatte, mag nun ein Document zeigen, welches eines der lehrreichsten
für die Erkenntniß der Revolution ist, die das Wiederaufleben der classischen
Studien hervorgerufen. Es ist der Lectionsplan der leipziger Hochschule,
welchen die 1519 von Herzog Georg verfügte Reformation derselben vorschreibt.
Dieser Katalog, aller Wahrscheinlichkeit nach von jenem N. Delitsch Verfaßt,


Untersuchungen widmeten, aber fast alle nahmen mit naiver Gläubigkeit die
überlieferten Ergebnisse der Mathematik, Astronomie und Physik hin und be¬
mühten sich nur, sie mit den sonst gewonnenen Anschauungen vom Wesen der
Dinge, vom menschlichen Geiste und von der Natur der Gottheit zu verschmelzen,
was dann eine sehr phantastische Naturphilosophie gab. Im Ganzen aber
standen die großen religiösen und sittlichen Fragen der Zeit zu sehr im Vorder¬
grunde, zitterten die Geister zu sehr von der Aufregung, welche durch Kirche
und Reich ging, als daß man die Sammlung und die sichere Hand zu jener
kaltblütigen Einzelarbeit hätte finden können, durch welche die positive Erkenntniß
der Natur später so ungeheure Fortschritte machte.

Am meisten geschah auf diesem Gebiete damals in der Mathematik und
Himmelskunde. Regiomontanus und sein Schüler Walter erfanden In¬
strumente, mit denen sie die Beobachtungen des Ptolemäus und Hipparchus
erneuerten, und als sie die Unrichtigkeit der astronomischen Tafeln erkannt,'
deren man sich bis auf ihre Zeit bedient hatte, berechneten sie neue. Ihnen
folgte Stöfflcr, der Gründer der mathematischen Schule in Tübingen, der
die Arbeiten seiner Vorgänger popularisirtc. indem er das, was die Astronomen
Ephemeriden nannten, zum Kalender machte. Er hielt an der Universität
Schwabens stark besuchte Vorlesungen über Sternkunde und mathematische und
physische Geographie, die um so werthvoller waren, als es damals über diese
Gegenstände noch keine Bücher gab. und er war zugleich ein geschickter Mecha¬
niker. Nach ihm ist sein Schüler Sebastian Münster zu nennen, der später
in Basel für die Geographie wirkte. Einem deutschen Gelehrten dieser Zeit
endlich war es vorbehalten, zu entdecken, daß die Menschheit hinsichtlich dessen,
was wir täglich glänzend am Himmel sehen, von Anbeginn der Geschichte den
Schein für die Wahrheit gehalten hatte. Der Preuße Kopernikus bewies,
daß die Sonne still steht, die Erde sich um sie bewegt, daß nicht diese, sondern
jene das Centrum unsres Planetensystems ist. 1507 schon machte er die Be-
' obachtungen und Rechnungen bekannt, auf die er sein großes Werk über die
Umdrehungen der Himmelskörper zu gründen gedachte, 1530 hatte er dasselbe
im Wesentlichen vollendet, aber erst 1543 erschien es im Druck, und Schulen
und Universitäten gingen noch jahrelang mit Ptolemäus und dem Buch Josua
in der Irre.

Wie viel oder wie wenig die neue Bildung gegen das Ende des zweiten
Decenniums auf eine der vornehmster, deutschen Universitäten des Mittelalters
gewirkt hatte, mag nun ein Document zeigen, welches eines der lehrreichsten
für die Erkenntniß der Revolution ist, die das Wiederaufleben der classischen
Studien hervorgerufen. Es ist der Lectionsplan der leipziger Hochschule,
welchen die 1519 von Herzog Georg verfügte Reformation derselben vorschreibt.
Dieser Katalog, aller Wahrscheinlichkeit nach von jenem N. Delitsch Verfaßt,


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[0523] Untersuchungen widmeten, aber fast alle nahmen mit naiver Gläubigkeit die überlieferten Ergebnisse der Mathematik, Astronomie und Physik hin und be¬ mühten sich nur, sie mit den sonst gewonnenen Anschauungen vom Wesen der Dinge, vom menschlichen Geiste und von der Natur der Gottheit zu verschmelzen, was dann eine sehr phantastische Naturphilosophie gab. Im Ganzen aber standen die großen religiösen und sittlichen Fragen der Zeit zu sehr im Vorder¬ grunde, zitterten die Geister zu sehr von der Aufregung, welche durch Kirche und Reich ging, als daß man die Sammlung und die sichere Hand zu jener kaltblütigen Einzelarbeit hätte finden können, durch welche die positive Erkenntniß der Natur später so ungeheure Fortschritte machte. Am meisten geschah auf diesem Gebiete damals in der Mathematik und Himmelskunde. Regiomontanus und sein Schüler Walter erfanden In¬ strumente, mit denen sie die Beobachtungen des Ptolemäus und Hipparchus erneuerten, und als sie die Unrichtigkeit der astronomischen Tafeln erkannt,' deren man sich bis auf ihre Zeit bedient hatte, berechneten sie neue. Ihnen folgte Stöfflcr, der Gründer der mathematischen Schule in Tübingen, der die Arbeiten seiner Vorgänger popularisirtc. indem er das, was die Astronomen Ephemeriden nannten, zum Kalender machte. Er hielt an der Universität Schwabens stark besuchte Vorlesungen über Sternkunde und mathematische und physische Geographie, die um so werthvoller waren, als es damals über diese Gegenstände noch keine Bücher gab. und er war zugleich ein geschickter Mecha¬ niker. Nach ihm ist sein Schüler Sebastian Münster zu nennen, der später in Basel für die Geographie wirkte. Einem deutschen Gelehrten dieser Zeit endlich war es vorbehalten, zu entdecken, daß die Menschheit hinsichtlich dessen, was wir täglich glänzend am Himmel sehen, von Anbeginn der Geschichte den Schein für die Wahrheit gehalten hatte. Der Preuße Kopernikus bewies, daß die Sonne still steht, die Erde sich um sie bewegt, daß nicht diese, sondern jene das Centrum unsres Planetensystems ist. 1507 schon machte er die Be- ' obachtungen und Rechnungen bekannt, auf die er sein großes Werk über die Umdrehungen der Himmelskörper zu gründen gedachte, 1530 hatte er dasselbe im Wesentlichen vollendet, aber erst 1543 erschien es im Druck, und Schulen und Universitäten gingen noch jahrelang mit Ptolemäus und dem Buch Josua in der Irre. Wie viel oder wie wenig die neue Bildung gegen das Ende des zweiten Decenniums auf eine der vornehmster, deutschen Universitäten des Mittelalters gewirkt hatte, mag nun ein Document zeigen, welches eines der lehrreichsten für die Erkenntniß der Revolution ist, die das Wiederaufleben der classischen Studien hervorgerufen. Es ist der Lectionsplan der leipziger Hochschule, welchen die 1519 von Herzog Georg verfügte Reformation derselben vorschreibt. Dieser Katalog, aller Wahrscheinlichkeit nach von jenem N. Delitsch Verfaßt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/523>, abgerufen am 01.07.2024.