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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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dahin vegetir;nde Volk unter den neuen Einwirkungen eine ungeahnte Spann"
kraft des Geistes, vielleicht werden europäische Mächte in Kurzem über die
Wohnsitze der Nesiorianer auch äußerlich einen directen Einfluß üben und den
Culturbestrebungen eine mächtige Stütze leihen. Nur über das Eine täusche
man sich nicht: durch religiöse Belebung allein wird man hier noch keine wirk¬
liche Cultur schaffen.

Jedenfalls würde es einen ganz andern Einfluß haben, wenn es gelänge,
die von Constantinopel und Moskau bis nach Kalkutta verbreiteten, reichen,
betriebsamen und mit Europa in vielfacher Berührung stehenden Armenier zu ge¬
winnen. Aber dieser Versuch dürste schwerlich so leicht gelingen. Allerdings
ist es der römischen Schlauheit geglückt, eine bedeutende Anzahl der Armenier
zu sich herüberzuziehen, aber der Kern der Nation betrachtet diese Unirten als
Auswürflinge und hält sich scheu von ihnen zurück. Bei den Armeniern ist das
literarisch-religiöse Nationalbewußtsein fast ebenso lebendig, wie beiden Juden,
mit denen diese weithin zerstreute Nation ja so viele Ähnlichkeit hat; eine ge¬
wisse literarische Bildung ist bei ihnen weit verbreitet, und eben diese, in ihrer
Form von der europäischen so sehr weit abstehend, in^ehe sie den Versuchen,
sie wirklich zu europäisiren, so sehr unzugänglich.

Welchen Ausgang nun aber auch diese Bestrebungen haben mögen, die hohen
wissenschaftlichen Verdienste der amerikanischen Missionäre bleiben durchaus be¬
stehen. Sie haben ein bis dahin ganz oder fast ganz unbekanntes Gebiet der
Wissenschaft erschlossen; die Geographie. Ethnologie und vor allem die Sprach¬
wissenschaft verdankt ihnen eine ganz unerwartete Erweiterung, und es ist nicht
zu bezweifeln, daß ihre Thätigkeit auch fernerhin der Wissenschaft noch viel wich¬
tiges Material liefern wird.


Th. Rottele.


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dahin vegetir;nde Volk unter den neuen Einwirkungen eine ungeahnte Spann«
kraft des Geistes, vielleicht werden europäische Mächte in Kurzem über die
Wohnsitze der Nesiorianer auch äußerlich einen directen Einfluß üben und den
Culturbestrebungen eine mächtige Stütze leihen. Nur über das Eine täusche
man sich nicht: durch religiöse Belebung allein wird man hier noch keine wirk¬
liche Cultur schaffen.

Jedenfalls würde es einen ganz andern Einfluß haben, wenn es gelänge,
die von Constantinopel und Moskau bis nach Kalkutta verbreiteten, reichen,
betriebsamen und mit Europa in vielfacher Berührung stehenden Armenier zu ge¬
winnen. Aber dieser Versuch dürste schwerlich so leicht gelingen. Allerdings
ist es der römischen Schlauheit geglückt, eine bedeutende Anzahl der Armenier
zu sich herüberzuziehen, aber der Kern der Nation betrachtet diese Unirten als
Auswürflinge und hält sich scheu von ihnen zurück. Bei den Armeniern ist das
literarisch-religiöse Nationalbewußtsein fast ebenso lebendig, wie beiden Juden,
mit denen diese weithin zerstreute Nation ja so viele Ähnlichkeit hat; eine ge¬
wisse literarische Bildung ist bei ihnen weit verbreitet, und eben diese, in ihrer
Form von der europäischen so sehr weit abstehend, in^ehe sie den Versuchen,
sie wirklich zu europäisiren, so sehr unzugänglich.

Welchen Ausgang nun aber auch diese Bestrebungen haben mögen, die hohen
wissenschaftlichen Verdienste der amerikanischen Missionäre bleiben durchaus be¬
stehen. Sie haben ein bis dahin ganz oder fast ganz unbekanntes Gebiet der
Wissenschaft erschlossen; die Geographie. Ethnologie und vor allem die Sprach¬
wissenschaft verdankt ihnen eine ganz unerwartete Erweiterung, und es ist nicht
zu bezweifeln, daß ihre Thätigkeit auch fernerhin der Wissenschaft noch viel wich¬
tiges Material liefern wird.


Th. Rottele.


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[0503] dahin vegetir;nde Volk unter den neuen Einwirkungen eine ungeahnte Spann« kraft des Geistes, vielleicht werden europäische Mächte in Kurzem über die Wohnsitze der Nesiorianer auch äußerlich einen directen Einfluß üben und den Culturbestrebungen eine mächtige Stütze leihen. Nur über das Eine täusche man sich nicht: durch religiöse Belebung allein wird man hier noch keine wirk¬ liche Cultur schaffen. Jedenfalls würde es einen ganz andern Einfluß haben, wenn es gelänge, die von Constantinopel und Moskau bis nach Kalkutta verbreiteten, reichen, betriebsamen und mit Europa in vielfacher Berührung stehenden Armenier zu ge¬ winnen. Aber dieser Versuch dürste schwerlich so leicht gelingen. Allerdings ist es der römischen Schlauheit geglückt, eine bedeutende Anzahl der Armenier zu sich herüberzuziehen, aber der Kern der Nation betrachtet diese Unirten als Auswürflinge und hält sich scheu von ihnen zurück. Bei den Armeniern ist das literarisch-religiöse Nationalbewußtsein fast ebenso lebendig, wie beiden Juden, mit denen diese weithin zerstreute Nation ja so viele Ähnlichkeit hat; eine ge¬ wisse literarische Bildung ist bei ihnen weit verbreitet, und eben diese, in ihrer Form von der europäischen so sehr weit abstehend, in^ehe sie den Versuchen, sie wirklich zu europäisiren, so sehr unzugänglich. Welchen Ausgang nun aber auch diese Bestrebungen haben mögen, die hohen wissenschaftlichen Verdienste der amerikanischen Missionäre bleiben durchaus be¬ stehen. Sie haben ein bis dahin ganz oder fast ganz unbekanntes Gebiet der Wissenschaft erschlossen; die Geographie. Ethnologie und vor allem die Sprach¬ wissenschaft verdankt ihnen eine ganz unerwartete Erweiterung, und es ist nicht zu bezweifeln, daß ihre Thätigkeit auch fernerhin der Wissenschaft noch viel wich¬ tiges Material liefern wird. Th. Rottele. «(^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/503>, abgerufen am 01.07.2024.