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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Vermischte Literatur.
Schlüssel zur polnischen Frage, oder warum konnte und kann Polen
als selbständiger Staat nicht bestehen? Von Friedrich von Smitt. Se. Pe.
t-rsburg, k. Hofbuchhandlung. 1865. 112 S. 8.

Nicht leicht wird unter denen, welche in der letzten Zeit die polnische Frage
zum Gegenstand ihres Nachdenkens machten, ein Andrer so befähigt gewesen sein,
dieselbe richtig zu beurtheilen, als Smitt, der sich ein halbes Jahrhundert hindurch
mit der Geschichte Polens beschäftigt hatte, und dem wir eine beträchtliche Anzahl
sehr werthvoller Schriften über die neueste Periode dieser Geschichte danken. Selbst
die befangensten Gegner Rußlands werden zugestehen müssen, daß hier die Stimme
eigner Anschauung und tiefen Studiums redet, wenn der Verfasser uns die Ent¬
stehung des polnischen Nationalcharakters. den Unterschied zwischen Polen und
Russen, die Kämpfe derselben miteinander, die Einwirkung von Adel und Geistlichkeit
auf den Gang der Geschicke des Volks und die endliche Zersetzung des Staates durch
diese Mächte schildert. Vortrefflich ist namentlich die Zurückführung des Untergangs
Polens auf den Nationalcharakter. Eine fehlerhafte Naturanlage. Ueberwiegen der
Phantasie, Mangel an Urtheilskraft und darum Maßlosigkeit in allem, dann eine
durch begünstigende Zeitumstände schnell über alle Schranken hinausgewachsene Adels¬
macht, welche die andern Stände zu Boden drückt und zuletzt in völlige Anarchie
ausartet, endlich das Eingreifen der Jesuiten in Unterricht und Erziehung des Volkes
und die Entzweiung der Nation durch den Fanatismus dieses Ordens, das und
nichts Andres waren die Hauptursachen von Polens Verfall. Die Mitwirkung der
Nachbarn zum endlichen Untergang war nur Erfüllung des Sprichwortes von dem Leich¬
nam, um den sich die Adler sammeln. Mangel an politischer Weisheit, maßlose Freiheits¬
liebe und phantastische Einbildungen beherrschten das ganze Staatswesen und führ¬
ten zu den ärgste" Verletzungen aller Gesetze politischer Vernunft. Wollte man der
Polnischen Adelskaste ihr Reich wieder ausrichten, so würde sie es nicht besser treiben,
sondern ihr angeborner Charakter würde über kurz oder lang sich wieder geltend
machen. Ihr ungestümes hitziges Wesen, ihr unverständiges Streben nach Ungebun-
denheit, welches nur den Impulsen der Laune und Leidenschaft folgt, ihre Selbst¬
sucht, die ohne Rücksicht auf das Allgemeine lediglich den eignen Vortheil sucht, ihre
katholische Bigotterie, ihre Streitsucht und ihre Neigung zu Konspirationen und
Rebellionen würden sie bald wieder in die alkn Thorheiten und Uebereilungen ver¬
fallen lassen. Polen kann ebenso wie Irland nur durch eine äußere starke Gewalt,
nur durch eine fremde Regierung zu Glück und Wohlstand gelangen; es geht ihm
wie gewissen Kindern, die man nie sich selbst überlassen darf, weil sie freigegeben nur
Unheil anrichten.


Das Staatsrecht des Königreichs Ungarn, vom Standpunkte der Ge¬
schichte und der vom Beginn des Reichs bis zum Jahre 1848 bestandenen Landes-

Vermischte Literatur.
Schlüssel zur polnischen Frage, oder warum konnte und kann Polen
als selbständiger Staat nicht bestehen? Von Friedrich von Smitt. Se. Pe.
t-rsburg, k. Hofbuchhandlung. 1865. 112 S. 8.

Nicht leicht wird unter denen, welche in der letzten Zeit die polnische Frage
zum Gegenstand ihres Nachdenkens machten, ein Andrer so befähigt gewesen sein,
dieselbe richtig zu beurtheilen, als Smitt, der sich ein halbes Jahrhundert hindurch
mit der Geschichte Polens beschäftigt hatte, und dem wir eine beträchtliche Anzahl
sehr werthvoller Schriften über die neueste Periode dieser Geschichte danken. Selbst
die befangensten Gegner Rußlands werden zugestehen müssen, daß hier die Stimme
eigner Anschauung und tiefen Studiums redet, wenn der Verfasser uns die Ent¬
stehung des polnischen Nationalcharakters. den Unterschied zwischen Polen und
Russen, die Kämpfe derselben miteinander, die Einwirkung von Adel und Geistlichkeit
auf den Gang der Geschicke des Volks und die endliche Zersetzung des Staates durch
diese Mächte schildert. Vortrefflich ist namentlich die Zurückführung des Untergangs
Polens auf den Nationalcharakter. Eine fehlerhafte Naturanlage. Ueberwiegen der
Phantasie, Mangel an Urtheilskraft und darum Maßlosigkeit in allem, dann eine
durch begünstigende Zeitumstände schnell über alle Schranken hinausgewachsene Adels¬
macht, welche die andern Stände zu Boden drückt und zuletzt in völlige Anarchie
ausartet, endlich das Eingreifen der Jesuiten in Unterricht und Erziehung des Volkes
und die Entzweiung der Nation durch den Fanatismus dieses Ordens, das und
nichts Andres waren die Hauptursachen von Polens Verfall. Die Mitwirkung der
Nachbarn zum endlichen Untergang war nur Erfüllung des Sprichwortes von dem Leich¬
nam, um den sich die Adler sammeln. Mangel an politischer Weisheit, maßlose Freiheits¬
liebe und phantastische Einbildungen beherrschten das ganze Staatswesen und führ¬
ten zu den ärgste» Verletzungen aller Gesetze politischer Vernunft. Wollte man der
Polnischen Adelskaste ihr Reich wieder ausrichten, so würde sie es nicht besser treiben,
sondern ihr angeborner Charakter würde über kurz oder lang sich wieder geltend
machen. Ihr ungestümes hitziges Wesen, ihr unverständiges Streben nach Ungebun-
denheit, welches nur den Impulsen der Laune und Leidenschaft folgt, ihre Selbst¬
sucht, die ohne Rücksicht auf das Allgemeine lediglich den eignen Vortheil sucht, ihre
katholische Bigotterie, ihre Streitsucht und ihre Neigung zu Konspirationen und
Rebellionen würden sie bald wieder in die alkn Thorheiten und Uebereilungen ver¬
fallen lassen. Polen kann ebenso wie Irland nur durch eine äußere starke Gewalt,
nur durch eine fremde Regierung zu Glück und Wohlstand gelangen; es geht ihm
wie gewissen Kindern, die man nie sich selbst überlassen darf, weil sie freigegeben nur
Unheil anrichten.


Das Staatsrecht des Königreichs Ungarn, vom Standpunkte der Ge¬
schichte und der vom Beginn des Reichs bis zum Jahre 1848 bestandenen Landes-

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[0043] Vermischte Literatur. Schlüssel zur polnischen Frage, oder warum konnte und kann Polen als selbständiger Staat nicht bestehen? Von Friedrich von Smitt. Se. Pe. t-rsburg, k. Hofbuchhandlung. 1865. 112 S. 8. Nicht leicht wird unter denen, welche in der letzten Zeit die polnische Frage zum Gegenstand ihres Nachdenkens machten, ein Andrer so befähigt gewesen sein, dieselbe richtig zu beurtheilen, als Smitt, der sich ein halbes Jahrhundert hindurch mit der Geschichte Polens beschäftigt hatte, und dem wir eine beträchtliche Anzahl sehr werthvoller Schriften über die neueste Periode dieser Geschichte danken. Selbst die befangensten Gegner Rußlands werden zugestehen müssen, daß hier die Stimme eigner Anschauung und tiefen Studiums redet, wenn der Verfasser uns die Ent¬ stehung des polnischen Nationalcharakters. den Unterschied zwischen Polen und Russen, die Kämpfe derselben miteinander, die Einwirkung von Adel und Geistlichkeit auf den Gang der Geschicke des Volks und die endliche Zersetzung des Staates durch diese Mächte schildert. Vortrefflich ist namentlich die Zurückführung des Untergangs Polens auf den Nationalcharakter. Eine fehlerhafte Naturanlage. Ueberwiegen der Phantasie, Mangel an Urtheilskraft und darum Maßlosigkeit in allem, dann eine durch begünstigende Zeitumstände schnell über alle Schranken hinausgewachsene Adels¬ macht, welche die andern Stände zu Boden drückt und zuletzt in völlige Anarchie ausartet, endlich das Eingreifen der Jesuiten in Unterricht und Erziehung des Volkes und die Entzweiung der Nation durch den Fanatismus dieses Ordens, das und nichts Andres waren die Hauptursachen von Polens Verfall. Die Mitwirkung der Nachbarn zum endlichen Untergang war nur Erfüllung des Sprichwortes von dem Leich¬ nam, um den sich die Adler sammeln. Mangel an politischer Weisheit, maßlose Freiheits¬ liebe und phantastische Einbildungen beherrschten das ganze Staatswesen und führ¬ ten zu den ärgste» Verletzungen aller Gesetze politischer Vernunft. Wollte man der Polnischen Adelskaste ihr Reich wieder ausrichten, so würde sie es nicht besser treiben, sondern ihr angeborner Charakter würde über kurz oder lang sich wieder geltend machen. Ihr ungestümes hitziges Wesen, ihr unverständiges Streben nach Ungebun- denheit, welches nur den Impulsen der Laune und Leidenschaft folgt, ihre Selbst¬ sucht, die ohne Rücksicht auf das Allgemeine lediglich den eignen Vortheil sucht, ihre katholische Bigotterie, ihre Streitsucht und ihre Neigung zu Konspirationen und Rebellionen würden sie bald wieder in die alkn Thorheiten und Uebereilungen ver¬ fallen lassen. Polen kann ebenso wie Irland nur durch eine äußere starke Gewalt, nur durch eine fremde Regierung zu Glück und Wohlstand gelangen; es geht ihm wie gewissen Kindern, die man nie sich selbst überlassen darf, weil sie freigegeben nur Unheil anrichten. Das Staatsrecht des Königreichs Ungarn, vom Standpunkte der Ge¬ schichte und der vom Beginn des Reichs bis zum Jahre 1848 bestandenen Landes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/43>, abgerufen am 26.06.2024.