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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Haupt zu beklagen ist, daß diese Agitation durchweg nur enthusiastische Anhänger
und fanatische Gegner oder völlig indifferente Zuschauer findet, aber selten oder
niemals kaltblütige, unbefangene Kritiker, welche Theilnahme mit wahrer Urtheils-
fähigkeit vereinigen.

Nach Europa ist die Bewegung erst seit dem Anfang der dreißiger Jahre
gedrungen. Aber obwohl sie damals in Amerika bereits den Charakter der
Enthaltsamkeitspredigt angenommen hatte, trat sie hier doch ebenfalls anfangs
in der Form der bloßen Mäßigkeitspredigt auf. Als solche bürgerte sie sich im
Beginn der dreißiger Jahre in England und Schweden, gegen Ende derselben
in Deutschland ein, hier vorzugsweise getragen durch den Pastor Böttcher in
Kirchrode bei Hannover. Noch ergriff sie Norwegen und Holland. -- wogegen
die romanischen und slavischen Länder, ja auch Süddeutschland, die Schweiz
und Oestreich wenig oder gar nicht von ihr berührt wurden. Es waren allent¬
halben größtentheils Geistliche oder religiös gestimmte Laien, welche ihr als
Träger dienten. Das Bekenntniß machte dabei nicht, wie Klima und Stamm,
einen Unterschied. Mit den Dissidenten und Hochkirchenmännern Englands
wetteiferte der berühmte Pater Matthew in Irland, dem man im October 1864
in der Stadt Cork auf öffentlichem Platze eine Denkmal errichtet hat -- mit
dem Pastor Böttcher und dem Baron Seid, einem rationalistischen und einem
orthodoxen deutschen Protestanten, Caplan Seling in Osnabrück und die katho¬
lischen Geistlichen Oberschlesiens. Dabei bewährte sich allerdings wieder der
alte Erfahrungssatz, daß die katholische Kirche in den Gegenden, wo sie recht
heimisch und zu Hause ist, eine ungleich größere Macht über die Gemüther zu
entwickeln vermag als die evangelische. Nirgends errang die Enthaltsamkeits¬
bewegung glänzendere Massenerfolge als in Irland und Oberschlesien: in Irland,
wo während Pater Matthews Predigt von 1839 an die Zahl der getrunkenen
Gallonen Branntwein beinahe auf die Hälfte und die Zahl der Verbrechen auf
wenig über ein Drittel herabsank -- und in Oberschlesien, wo nach Lichtmeß
1844 in einem einzigen Jahre über eine halbe Million Männer und Frauen
das Gelübde der Enthaltsamkeit ablegte. Der Sieg war glänzend, aber die
Eroberung wurde leider nicht behauptet. Ein großer Theil der Bekehrten siel
wieder ab. In beiden Ländern brach nachher auf zwei mißrathene Ernten ein
furchtbarer Hungertyphus aus, und selbst ein so ausgemachter Freund der Mäßig¬
keitssache wie V. A. Huber nimmt an, daß hierzu die plötzliche Entwöhnung
so vieler eingefleischter und bereits entnervter Trinker vom Glase das Ihrige
beigetragen habe. Dann folgte das Jahr 1848. das in andrer Weise der Agi¬
tation verderblich wurde. Theils warfen sich nun viele ihrer eifrigsten Träger
in die plötzlich geöffnete politische Arena -- u. a. sogar der Baron Seid, der
in der zweiten Hälfte des Jahres zu den Führern der fanatisch-realistischen
Bauern in den Umgebungen Berlins gehörte, welche für das nachher einrückende


Haupt zu beklagen ist, daß diese Agitation durchweg nur enthusiastische Anhänger
und fanatische Gegner oder völlig indifferente Zuschauer findet, aber selten oder
niemals kaltblütige, unbefangene Kritiker, welche Theilnahme mit wahrer Urtheils-
fähigkeit vereinigen.

Nach Europa ist die Bewegung erst seit dem Anfang der dreißiger Jahre
gedrungen. Aber obwohl sie damals in Amerika bereits den Charakter der
Enthaltsamkeitspredigt angenommen hatte, trat sie hier doch ebenfalls anfangs
in der Form der bloßen Mäßigkeitspredigt auf. Als solche bürgerte sie sich im
Beginn der dreißiger Jahre in England und Schweden, gegen Ende derselben
in Deutschland ein, hier vorzugsweise getragen durch den Pastor Böttcher in
Kirchrode bei Hannover. Noch ergriff sie Norwegen und Holland. — wogegen
die romanischen und slavischen Länder, ja auch Süddeutschland, die Schweiz
und Oestreich wenig oder gar nicht von ihr berührt wurden. Es waren allent¬
halben größtentheils Geistliche oder religiös gestimmte Laien, welche ihr als
Träger dienten. Das Bekenntniß machte dabei nicht, wie Klima und Stamm,
einen Unterschied. Mit den Dissidenten und Hochkirchenmännern Englands
wetteiferte der berühmte Pater Matthew in Irland, dem man im October 1864
in der Stadt Cork auf öffentlichem Platze eine Denkmal errichtet hat — mit
dem Pastor Böttcher und dem Baron Seid, einem rationalistischen und einem
orthodoxen deutschen Protestanten, Caplan Seling in Osnabrück und die katho¬
lischen Geistlichen Oberschlesiens. Dabei bewährte sich allerdings wieder der
alte Erfahrungssatz, daß die katholische Kirche in den Gegenden, wo sie recht
heimisch und zu Hause ist, eine ungleich größere Macht über die Gemüther zu
entwickeln vermag als die evangelische. Nirgends errang die Enthaltsamkeits¬
bewegung glänzendere Massenerfolge als in Irland und Oberschlesien: in Irland,
wo während Pater Matthews Predigt von 1839 an die Zahl der getrunkenen
Gallonen Branntwein beinahe auf die Hälfte und die Zahl der Verbrechen auf
wenig über ein Drittel herabsank — und in Oberschlesien, wo nach Lichtmeß
1844 in einem einzigen Jahre über eine halbe Million Männer und Frauen
das Gelübde der Enthaltsamkeit ablegte. Der Sieg war glänzend, aber die
Eroberung wurde leider nicht behauptet. Ein großer Theil der Bekehrten siel
wieder ab. In beiden Ländern brach nachher auf zwei mißrathene Ernten ein
furchtbarer Hungertyphus aus, und selbst ein so ausgemachter Freund der Mäßig¬
keitssache wie V. A. Huber nimmt an, daß hierzu die plötzliche Entwöhnung
so vieler eingefleischter und bereits entnervter Trinker vom Glase das Ihrige
beigetragen habe. Dann folgte das Jahr 1848. das in andrer Weise der Agi¬
tation verderblich wurde. Theils warfen sich nun viele ihrer eifrigsten Träger
in die plötzlich geöffnete politische Arena — u. a. sogar der Baron Seid, der
in der zweiten Hälfte des Jahres zu den Führern der fanatisch-realistischen
Bauern in den Umgebungen Berlins gehörte, welche für das nachher einrückende


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[0310] Haupt zu beklagen ist, daß diese Agitation durchweg nur enthusiastische Anhänger und fanatische Gegner oder völlig indifferente Zuschauer findet, aber selten oder niemals kaltblütige, unbefangene Kritiker, welche Theilnahme mit wahrer Urtheils- fähigkeit vereinigen. Nach Europa ist die Bewegung erst seit dem Anfang der dreißiger Jahre gedrungen. Aber obwohl sie damals in Amerika bereits den Charakter der Enthaltsamkeitspredigt angenommen hatte, trat sie hier doch ebenfalls anfangs in der Form der bloßen Mäßigkeitspredigt auf. Als solche bürgerte sie sich im Beginn der dreißiger Jahre in England und Schweden, gegen Ende derselben in Deutschland ein, hier vorzugsweise getragen durch den Pastor Böttcher in Kirchrode bei Hannover. Noch ergriff sie Norwegen und Holland. — wogegen die romanischen und slavischen Länder, ja auch Süddeutschland, die Schweiz und Oestreich wenig oder gar nicht von ihr berührt wurden. Es waren allent¬ halben größtentheils Geistliche oder religiös gestimmte Laien, welche ihr als Träger dienten. Das Bekenntniß machte dabei nicht, wie Klima und Stamm, einen Unterschied. Mit den Dissidenten und Hochkirchenmännern Englands wetteiferte der berühmte Pater Matthew in Irland, dem man im October 1864 in der Stadt Cork auf öffentlichem Platze eine Denkmal errichtet hat — mit dem Pastor Böttcher und dem Baron Seid, einem rationalistischen und einem orthodoxen deutschen Protestanten, Caplan Seling in Osnabrück und die katho¬ lischen Geistlichen Oberschlesiens. Dabei bewährte sich allerdings wieder der alte Erfahrungssatz, daß die katholische Kirche in den Gegenden, wo sie recht heimisch und zu Hause ist, eine ungleich größere Macht über die Gemüther zu entwickeln vermag als die evangelische. Nirgends errang die Enthaltsamkeits¬ bewegung glänzendere Massenerfolge als in Irland und Oberschlesien: in Irland, wo während Pater Matthews Predigt von 1839 an die Zahl der getrunkenen Gallonen Branntwein beinahe auf die Hälfte und die Zahl der Verbrechen auf wenig über ein Drittel herabsank — und in Oberschlesien, wo nach Lichtmeß 1844 in einem einzigen Jahre über eine halbe Million Männer und Frauen das Gelübde der Enthaltsamkeit ablegte. Der Sieg war glänzend, aber die Eroberung wurde leider nicht behauptet. Ein großer Theil der Bekehrten siel wieder ab. In beiden Ländern brach nachher auf zwei mißrathene Ernten ein furchtbarer Hungertyphus aus, und selbst ein so ausgemachter Freund der Mäßig¬ keitssache wie V. A. Huber nimmt an, daß hierzu die plötzliche Entwöhnung so vieler eingefleischter und bereits entnervter Trinker vom Glase das Ihrige beigetragen habe. Dann folgte das Jahr 1848. das in andrer Weise der Agi¬ tation verderblich wurde. Theils warfen sich nun viele ihrer eifrigsten Träger in die plötzlich geöffnete politische Arena — u. a. sogar der Baron Seid, der in der zweiten Hälfte des Jahres zu den Führern der fanatisch-realistischen Bauern in den Umgebungen Berlins gehörte, welche für das nachher einrückende

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/310>, abgerufen am 22.12.2024.