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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Den Deutschen ist aus einem Vers, der in zwei Vershälften vier betonte
Stammsilben hatte, welche durch Alliteration zusammengebunden waren, zunächst
seit dem Eindringen des Reims ein epischer Vers von vier Hebungen entstanden,
der mit dem nächsten Vers durch den Reim verbunden war. Vier solcher Verse
machten eine volksmäßige Strophe, der die Musik des letzten Theils durch Wetter¬
führung und Abschluß des ersten melodischen Satzes geformt wurde. Außerdem
aber entwickelte sich, als die vollen Bildungsendungen der ältesten Sprache abge-
schliffen wurden, ein epischer Vers von sechs Hebungen, der mit dem folgenden
wieder durch den Reim verbunden und in Strophen von je Vier Versen zu¬
sammengekoppelt das Nibelungenmaß gab.

So ist die Form des alten Gesanges eine gegebene, in welcher das Sprach-
und Klanggefühl des Volkes sicher und dabei sehr sein und gesetzvoll schafft.
Aber auch der Inhalt alter Poesie ist kein zufälliger. Denn alles wird dem
begabten Manne zur Dichtung, was ihm die Seele erhebt. Von Gestalten
seiner Götter, die er als verklärte Abbilder menschlichen Lebens gedacht hat,
berichtet er, indem er ihnen menschliche Schicksale und Abenteuer verleiht; die
Gebilde und Erscheinungen der Natur, die grünende Erde, den Reif und Hagel,
Felsen und Bäume, auch die Thiere der Wildniß erfüllt er mit menschlichem
Schicksal. Endlich auch von der Vergangenheit seines Volkes, von den eigenen
Schicksalen und Empfindungen erzählt er als Dichtender. Er kennt keine andere
Art der Ueberlieferung als durch epischen Gesang.

Sehr merkwürdig und für uns nicht leicht verständlich ist die Methode, nach
Welcher ein kräftiges Volk in seiner Jugend das Walten des Göttlichen als
Mythe auffaßt, den Verlauf geschichtlicher Ereignisse zur Sage umformt. Wenn
wir das Rollen des Donners und das Rollen unserer Räder vergleichen, so
sind wir uns deutlich bewußt, wie verschieden der Ursprung dieses und jenes
Getöses ist und daß sie nichts gemeinsam haben, als eine gewisse Ähnlichkeit
des Klanges. Dem Verständniß eines jungen Volkes entzieht sich die that¬
sächliche Ursache des Geräusches in der Lust vollständig, mit gläubiger Sicher¬
heit wird aus dem Klang auf das Vorhandensein eines himmlischen Wagens
geschlossen, und dem Charakter der Naturerscheinung gemäß träumt die Phantasie
den göttlichen Wagenlenker, eine gewaltige, kriegerische, waffenschleudernde
Gestalt mit feurig rothem Bart. Der Mensch hört seinen Gott über den
Himmelsraum fahren, er sieht die segensreiche Folge seiner Fahrt in dem
fruchtbaren Regen, der die welke Saat erquickt, seine göttliche Gewalt in dem
Strahl, der zur Erde fährt, seinen Zorn in dem Hagel, der die Fruchtbäume
zerschlägt oder auf die Schilde kämpfender Menschen niederschmettert. Und wieder
in dem Sturmwind, der beim Anbruch des Frühjahrs und beim Beginn des
Winters über den First des Hauses dahinfährt, hörte der Germane das Gellen,
Pfeifen und Rufen einer wilden Jagd, Geheul der Wolfshunde. Schnauben


Grenzboten l, 18os

Den Deutschen ist aus einem Vers, der in zwei Vershälften vier betonte
Stammsilben hatte, welche durch Alliteration zusammengebunden waren, zunächst
seit dem Eindringen des Reims ein epischer Vers von vier Hebungen entstanden,
der mit dem nächsten Vers durch den Reim verbunden war. Vier solcher Verse
machten eine volksmäßige Strophe, der die Musik des letzten Theils durch Wetter¬
führung und Abschluß des ersten melodischen Satzes geformt wurde. Außerdem
aber entwickelte sich, als die vollen Bildungsendungen der ältesten Sprache abge-
schliffen wurden, ein epischer Vers von sechs Hebungen, der mit dem folgenden
wieder durch den Reim verbunden und in Strophen von je Vier Versen zu¬
sammengekoppelt das Nibelungenmaß gab.

So ist die Form des alten Gesanges eine gegebene, in welcher das Sprach-
und Klanggefühl des Volkes sicher und dabei sehr sein und gesetzvoll schafft.
Aber auch der Inhalt alter Poesie ist kein zufälliger. Denn alles wird dem
begabten Manne zur Dichtung, was ihm die Seele erhebt. Von Gestalten
seiner Götter, die er als verklärte Abbilder menschlichen Lebens gedacht hat,
berichtet er, indem er ihnen menschliche Schicksale und Abenteuer verleiht; die
Gebilde und Erscheinungen der Natur, die grünende Erde, den Reif und Hagel,
Felsen und Bäume, auch die Thiere der Wildniß erfüllt er mit menschlichem
Schicksal. Endlich auch von der Vergangenheit seines Volkes, von den eigenen
Schicksalen und Empfindungen erzählt er als Dichtender. Er kennt keine andere
Art der Ueberlieferung als durch epischen Gesang.

Sehr merkwürdig und für uns nicht leicht verständlich ist die Methode, nach
Welcher ein kräftiges Volk in seiner Jugend das Walten des Göttlichen als
Mythe auffaßt, den Verlauf geschichtlicher Ereignisse zur Sage umformt. Wenn
wir das Rollen des Donners und das Rollen unserer Räder vergleichen, so
sind wir uns deutlich bewußt, wie verschieden der Ursprung dieses und jenes
Getöses ist und daß sie nichts gemeinsam haben, als eine gewisse Ähnlichkeit
des Klanges. Dem Verständniß eines jungen Volkes entzieht sich die that¬
sächliche Ursache des Geräusches in der Lust vollständig, mit gläubiger Sicher¬
heit wird aus dem Klang auf das Vorhandensein eines himmlischen Wagens
geschlossen, und dem Charakter der Naturerscheinung gemäß träumt die Phantasie
den göttlichen Wagenlenker, eine gewaltige, kriegerische, waffenschleudernde
Gestalt mit feurig rothem Bart. Der Mensch hört seinen Gott über den
Himmelsraum fahren, er sieht die segensreiche Folge seiner Fahrt in dem
fruchtbaren Regen, der die welke Saat erquickt, seine göttliche Gewalt in dem
Strahl, der zur Erde fährt, seinen Zorn in dem Hagel, der die Fruchtbäume
zerschlägt oder auf die Schilde kämpfender Menschen niederschmettert. Und wieder
in dem Sturmwind, der beim Anbruch des Frühjahrs und beim Beginn des
Winters über den First des Hauses dahinfährt, hörte der Germane das Gellen,
Pfeifen und Rufen einer wilden Jagd, Geheul der Wolfshunde. Schnauben


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[0031] Den Deutschen ist aus einem Vers, der in zwei Vershälften vier betonte Stammsilben hatte, welche durch Alliteration zusammengebunden waren, zunächst seit dem Eindringen des Reims ein epischer Vers von vier Hebungen entstanden, der mit dem nächsten Vers durch den Reim verbunden war. Vier solcher Verse machten eine volksmäßige Strophe, der die Musik des letzten Theils durch Wetter¬ führung und Abschluß des ersten melodischen Satzes geformt wurde. Außerdem aber entwickelte sich, als die vollen Bildungsendungen der ältesten Sprache abge- schliffen wurden, ein epischer Vers von sechs Hebungen, der mit dem folgenden wieder durch den Reim verbunden und in Strophen von je Vier Versen zu¬ sammengekoppelt das Nibelungenmaß gab. So ist die Form des alten Gesanges eine gegebene, in welcher das Sprach- und Klanggefühl des Volkes sicher und dabei sehr sein und gesetzvoll schafft. Aber auch der Inhalt alter Poesie ist kein zufälliger. Denn alles wird dem begabten Manne zur Dichtung, was ihm die Seele erhebt. Von Gestalten seiner Götter, die er als verklärte Abbilder menschlichen Lebens gedacht hat, berichtet er, indem er ihnen menschliche Schicksale und Abenteuer verleiht; die Gebilde und Erscheinungen der Natur, die grünende Erde, den Reif und Hagel, Felsen und Bäume, auch die Thiere der Wildniß erfüllt er mit menschlichem Schicksal. Endlich auch von der Vergangenheit seines Volkes, von den eigenen Schicksalen und Empfindungen erzählt er als Dichtender. Er kennt keine andere Art der Ueberlieferung als durch epischen Gesang. Sehr merkwürdig und für uns nicht leicht verständlich ist die Methode, nach Welcher ein kräftiges Volk in seiner Jugend das Walten des Göttlichen als Mythe auffaßt, den Verlauf geschichtlicher Ereignisse zur Sage umformt. Wenn wir das Rollen des Donners und das Rollen unserer Räder vergleichen, so sind wir uns deutlich bewußt, wie verschieden der Ursprung dieses und jenes Getöses ist und daß sie nichts gemeinsam haben, als eine gewisse Ähnlichkeit des Klanges. Dem Verständniß eines jungen Volkes entzieht sich die that¬ sächliche Ursache des Geräusches in der Lust vollständig, mit gläubiger Sicher¬ heit wird aus dem Klang auf das Vorhandensein eines himmlischen Wagens geschlossen, und dem Charakter der Naturerscheinung gemäß träumt die Phantasie den göttlichen Wagenlenker, eine gewaltige, kriegerische, waffenschleudernde Gestalt mit feurig rothem Bart. Der Mensch hört seinen Gott über den Himmelsraum fahren, er sieht die segensreiche Folge seiner Fahrt in dem fruchtbaren Regen, der die welke Saat erquickt, seine göttliche Gewalt in dem Strahl, der zur Erde fährt, seinen Zorn in dem Hagel, der die Fruchtbäume zerschlägt oder auf die Schilde kämpfender Menschen niederschmettert. Und wieder in dem Sturmwind, der beim Anbruch des Frühjahrs und beim Beginn des Winters über den First des Hauses dahinfährt, hörte der Germane das Gellen, Pfeifen und Rufen einer wilden Jagd, Geheul der Wolfshunde. Schnauben Grenzboten l, 18os

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/31>, abgerufen am 24.08.2024.