Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

mäßiger Wechsel betonter und unbetonter Silben, ähnlich auch bei den Germanen,
nur daß hier Hochton und Tiefton der Silben abhängen von dem Gewicht,
welches die Silbe für die Wortbildung hat. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit
der germanischen Sprache, und schon früh ein merkwürdige? Ueberwiegen des
geistigen Elementes der Sprache über den Klang, daß ihr die Stammsilben
den hohen Ton haben, alle bildenden Silben der Flexion u. s. w. aber nur
Nebenton oder Tieftvn. Nach solchem Grundgesetz hat sich der griechische Hexa¬
meter, der saturninische Vers und der alliterirende Vers der Germanen gebildet.
Ebenso der Doppelvers der indischen Stola, der Heldenvers der Araber, Slaven,
Finnen u. a.

Diese beiden abgewogenen Satztheile werden also in jeder Sprache
durch den Klang in eigenthümlicher Weise verbunden. Und die ursprüngliche
Zweitheiligkeit wird durch das Band des Gleichklanges auch verdeckt. Denn dieser
Gleichklang selbst ist kein unbedingter, jeder der beiden Theile erhält eine Be¬
sonderheit, zumal der Schluß des Verses wird gern durch bestimmten Tonfall
ausgezeichnet. Den Deutschen ist das besondere Band der beiden Verohälften
ursprünglich die Alliteration, d. h. der gleiche Amiant mehrer starkbetonter
Silben in demselben Vers. Erst seit dem Eindringen des mittelalterlichen Lateins
er^et an die Stelle der Alliteration der Reim, ein neues Bindemittel, welches
je zwei Verse zusammenschließt.

Aus solcher im Glcichklang schwebenden Rede setzt sich alles, was der
Mensch nicht im praktischen Bedürfniß der Stunde, sondern bei feierlichem
Genuß der Rede schafft, zusammen. Für Gebet, Segenspruch. Sprichwort, Räthsel,
festlichen Bericht über Vergangenes ist dieser epische Vers dem jungen Volk
die nothwendige Form des Ausdrucks. Zu ihm fügt sich stärkere Modulation
der Stimme und zuweilen rhythmische Bewegung des Körpers, der erste Gesang
und Tanz. Denn auch die ausgesprochenen Empfindungen des Einzelnen und die
Worte, welche den Tanz begleiten, werden nach demselben Maße der Verse geformt.

Aber bei dem Liede und beim Tanzvers tritt sehr früh eine Modifikation
des ursprünglichen Verses ein. Während die epische Rede zu Gebet, Spruchformeln
und bei längerem Bericht in gleichförmigem Flusse Vers an Vers schließt,
ersehnt das stärker bewegte Gemüth und die Regung der Glieder im Tanze
einen kräftigeren Abschluß. Denn die lyrische Empfindung sucht zum Satz und
Gegensatz eine Vermittelung, auch der Reihentanz fordert zu der Bewegung erst
nach einer Seite, dann nach der andern Seite, nach vorwärts oder rückwärts,
eine dritte TanMur. Dieser Abschluß nach zwei Theilen zeigt sich zuerst in
einer Wandlung der Melodie oder in Wiederholung eines Verses oder im
Wechsel zwischen Solo und Chor, zuweilen auch im Refrain. Dies ist Ur¬
sprung der lyrischen Strophe, in welcher die Dreithciligkeit sich im Lause der
Zeit entschiedener ausbildet.


mäßiger Wechsel betonter und unbetonter Silben, ähnlich auch bei den Germanen,
nur daß hier Hochton und Tiefton der Silben abhängen von dem Gewicht,
welches die Silbe für die Wortbildung hat. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit
der germanischen Sprache, und schon früh ein merkwürdige? Ueberwiegen des
geistigen Elementes der Sprache über den Klang, daß ihr die Stammsilben
den hohen Ton haben, alle bildenden Silben der Flexion u. s. w. aber nur
Nebenton oder Tieftvn. Nach solchem Grundgesetz hat sich der griechische Hexa¬
meter, der saturninische Vers und der alliterirende Vers der Germanen gebildet.
Ebenso der Doppelvers der indischen Stola, der Heldenvers der Araber, Slaven,
Finnen u. a.

Diese beiden abgewogenen Satztheile werden also in jeder Sprache
durch den Klang in eigenthümlicher Weise verbunden. Und die ursprüngliche
Zweitheiligkeit wird durch das Band des Gleichklanges auch verdeckt. Denn dieser
Gleichklang selbst ist kein unbedingter, jeder der beiden Theile erhält eine Be¬
sonderheit, zumal der Schluß des Verses wird gern durch bestimmten Tonfall
ausgezeichnet. Den Deutschen ist das besondere Band der beiden Verohälften
ursprünglich die Alliteration, d. h. der gleiche Amiant mehrer starkbetonter
Silben in demselben Vers. Erst seit dem Eindringen des mittelalterlichen Lateins
er^et an die Stelle der Alliteration der Reim, ein neues Bindemittel, welches
je zwei Verse zusammenschließt.

Aus solcher im Glcichklang schwebenden Rede setzt sich alles, was der
Mensch nicht im praktischen Bedürfniß der Stunde, sondern bei feierlichem
Genuß der Rede schafft, zusammen. Für Gebet, Segenspruch. Sprichwort, Räthsel,
festlichen Bericht über Vergangenes ist dieser epische Vers dem jungen Volk
die nothwendige Form des Ausdrucks. Zu ihm fügt sich stärkere Modulation
der Stimme und zuweilen rhythmische Bewegung des Körpers, der erste Gesang
und Tanz. Denn auch die ausgesprochenen Empfindungen des Einzelnen und die
Worte, welche den Tanz begleiten, werden nach demselben Maße der Verse geformt.

Aber bei dem Liede und beim Tanzvers tritt sehr früh eine Modifikation
des ursprünglichen Verses ein. Während die epische Rede zu Gebet, Spruchformeln
und bei längerem Bericht in gleichförmigem Flusse Vers an Vers schließt,
ersehnt das stärker bewegte Gemüth und die Regung der Glieder im Tanze
einen kräftigeren Abschluß. Denn die lyrische Empfindung sucht zum Satz und
Gegensatz eine Vermittelung, auch der Reihentanz fordert zu der Bewegung erst
nach einer Seite, dann nach der andern Seite, nach vorwärts oder rückwärts,
eine dritte TanMur. Dieser Abschluß nach zwei Theilen zeigt sich zuerst in
einer Wandlung der Melodie oder in Wiederholung eines Verses oder im
Wechsel zwischen Solo und Chor, zuweilen auch im Refrain. Dies ist Ur¬
sprung der lyrischen Strophe, in welcher die Dreithciligkeit sich im Lause der
Zeit entschiedener ausbildet.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/284500"/>
          <p xml:id="ID_59" prev="#ID_58"> mäßiger Wechsel betonter und unbetonter Silben, ähnlich auch bei den Germanen,<lb/>
nur daß hier Hochton und Tiefton der Silben abhängen von dem Gewicht,<lb/>
welches die Silbe für die Wortbildung hat. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit<lb/>
der germanischen Sprache, und schon früh ein merkwürdige? Ueberwiegen des<lb/>
geistigen Elementes der Sprache über den Klang, daß ihr die Stammsilben<lb/>
den hohen Ton haben, alle bildenden Silben der Flexion u. s. w. aber nur<lb/>
Nebenton oder Tieftvn. Nach solchem Grundgesetz hat sich der griechische Hexa¬<lb/>
meter, der saturninische Vers und der alliterirende Vers der Germanen gebildet.<lb/>
Ebenso der Doppelvers der indischen Stola, der Heldenvers der Araber, Slaven,<lb/>
Finnen u. a.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_60"> Diese beiden abgewogenen Satztheile werden also in jeder Sprache<lb/>
durch den Klang in eigenthümlicher Weise verbunden. Und die ursprüngliche<lb/>
Zweitheiligkeit wird durch das Band des Gleichklanges auch verdeckt. Denn dieser<lb/>
Gleichklang selbst ist kein unbedingter, jeder der beiden Theile erhält eine Be¬<lb/>
sonderheit, zumal der Schluß des Verses wird gern durch bestimmten Tonfall<lb/>
ausgezeichnet. Den Deutschen ist das besondere Band der beiden Verohälften<lb/>
ursprünglich die Alliteration, d. h. der gleiche Amiant mehrer starkbetonter<lb/>
Silben in demselben Vers. Erst seit dem Eindringen des mittelalterlichen Lateins<lb/>
er^et an die Stelle der Alliteration der Reim, ein neues Bindemittel, welches<lb/>
je zwei Verse zusammenschließt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_61"> Aus solcher im Glcichklang schwebenden Rede setzt sich alles, was der<lb/>
Mensch nicht im praktischen Bedürfniß der Stunde, sondern bei feierlichem<lb/>
Genuß der Rede schafft, zusammen. Für Gebet, Segenspruch. Sprichwort, Räthsel,<lb/>
festlichen Bericht über Vergangenes ist dieser epische Vers dem jungen Volk<lb/>
die nothwendige Form des Ausdrucks. Zu ihm fügt sich stärkere Modulation<lb/>
der Stimme und zuweilen rhythmische Bewegung des Körpers, der erste Gesang<lb/>
und Tanz. Denn auch die ausgesprochenen Empfindungen des Einzelnen und die<lb/>
Worte, welche den Tanz begleiten, werden nach demselben Maße der Verse geformt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_62"> Aber bei dem Liede und beim Tanzvers tritt sehr früh eine Modifikation<lb/>
des ursprünglichen Verses ein. Während die epische Rede zu Gebet, Spruchformeln<lb/>
und bei längerem Bericht in gleichförmigem Flusse Vers an Vers schließt,<lb/>
ersehnt das stärker bewegte Gemüth und die Regung der Glieder im Tanze<lb/>
einen kräftigeren Abschluß. Denn die lyrische Empfindung sucht zum Satz und<lb/>
Gegensatz eine Vermittelung, auch der Reihentanz fordert zu der Bewegung erst<lb/>
nach einer Seite, dann nach der andern Seite, nach vorwärts oder rückwärts,<lb/>
eine dritte TanMur. Dieser Abschluß nach zwei Theilen zeigt sich zuerst in<lb/>
einer Wandlung der Melodie oder in Wiederholung eines Verses oder im<lb/>
Wechsel zwischen Solo und Chor, zuweilen auch im Refrain. Dies ist Ur¬<lb/>
sprung der lyrischen Strophe, in welcher die Dreithciligkeit sich im Lause der<lb/>
Zeit entschiedener ausbildet.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0030] mäßiger Wechsel betonter und unbetonter Silben, ähnlich auch bei den Germanen, nur daß hier Hochton und Tiefton der Silben abhängen von dem Gewicht, welches die Silbe für die Wortbildung hat. Denn es ist eine Eigenthümlichkeit der germanischen Sprache, und schon früh ein merkwürdige? Ueberwiegen des geistigen Elementes der Sprache über den Klang, daß ihr die Stammsilben den hohen Ton haben, alle bildenden Silben der Flexion u. s. w. aber nur Nebenton oder Tieftvn. Nach solchem Grundgesetz hat sich der griechische Hexa¬ meter, der saturninische Vers und der alliterirende Vers der Germanen gebildet. Ebenso der Doppelvers der indischen Stola, der Heldenvers der Araber, Slaven, Finnen u. a. Diese beiden abgewogenen Satztheile werden also in jeder Sprache durch den Klang in eigenthümlicher Weise verbunden. Und die ursprüngliche Zweitheiligkeit wird durch das Band des Gleichklanges auch verdeckt. Denn dieser Gleichklang selbst ist kein unbedingter, jeder der beiden Theile erhält eine Be¬ sonderheit, zumal der Schluß des Verses wird gern durch bestimmten Tonfall ausgezeichnet. Den Deutschen ist das besondere Band der beiden Verohälften ursprünglich die Alliteration, d. h. der gleiche Amiant mehrer starkbetonter Silben in demselben Vers. Erst seit dem Eindringen des mittelalterlichen Lateins er^et an die Stelle der Alliteration der Reim, ein neues Bindemittel, welches je zwei Verse zusammenschließt. Aus solcher im Glcichklang schwebenden Rede setzt sich alles, was der Mensch nicht im praktischen Bedürfniß der Stunde, sondern bei feierlichem Genuß der Rede schafft, zusammen. Für Gebet, Segenspruch. Sprichwort, Räthsel, festlichen Bericht über Vergangenes ist dieser epische Vers dem jungen Volk die nothwendige Form des Ausdrucks. Zu ihm fügt sich stärkere Modulation der Stimme und zuweilen rhythmische Bewegung des Körpers, der erste Gesang und Tanz. Denn auch die ausgesprochenen Empfindungen des Einzelnen und die Worte, welche den Tanz begleiten, werden nach demselben Maße der Verse geformt. Aber bei dem Liede und beim Tanzvers tritt sehr früh eine Modifikation des ursprünglichen Verses ein. Während die epische Rede zu Gebet, Spruchformeln und bei längerem Bericht in gleichförmigem Flusse Vers an Vers schließt, ersehnt das stärker bewegte Gemüth und die Regung der Glieder im Tanze einen kräftigeren Abschluß. Denn die lyrische Empfindung sucht zum Satz und Gegensatz eine Vermittelung, auch der Reihentanz fordert zu der Bewegung erst nach einer Seite, dann nach der andern Seite, nach vorwärts oder rückwärts, eine dritte TanMur. Dieser Abschluß nach zwei Theilen zeigt sich zuerst in einer Wandlung der Melodie oder in Wiederholung eines Verses oder im Wechsel zwischen Solo und Chor, zuweilen auch im Refrain. Dies ist Ur¬ sprung der lyrischen Strophe, in welcher die Dreithciligkeit sich im Lause der Zeit entschiedener ausbildet.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/30
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/30>, abgerufen am 26.06.2024.