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Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band.

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Es ist ein sehr dunkles Bild, welches die Regierung hier, in Ueberein¬
stimmung mit der Geistlichkeit des Landes, von dem sittlichen Zustande eines
großen Theiles der Bevölkerung entwirft, und zugleich enthält das seinem In¬
halte nach mitgetheilte Schriftstück eine schwere Selbstanklage Seitens der Ur¬
heber einer Gesetzgebung, welche, wie sie selbst sagen, mit den Geboten Gottes
unvereinbar ist. Das Rescript redet zwar von Bedenken gegen die gewährten
Zugeständnisse. Es giebt aber darüber keine Auskunft, weshalb man nicht schon
damals, als man jene Befreiungen von der Befolgung des göttlichen Gebotes
den ländlichen Arbeitern aus Rücksicht auf die sonst entstehende Unmöglichkeit,
ihre eigene Wirthschaft aufrecht zu erhalten, einräumte, statt dessen den jetzt
eingeschlagenen Weg betrat. Bei dem allen verdient die Offenheit Anerkennung,
mit welcher jetzt die Regierung selbst, im Anschluß an den Nothschrei der Landes¬
geistlichkeit, den unter der Herrschaft des Feudalismus und der kirchlichen
Orthodoxie gepflegten und ausgebildeten heillosen Zustand schildert und den
Vorhang hinwegzieht, welcher bis dahin von der herrschenden Partei zur Ver¬
hüllung der Wirklichkeit benutzt wurde. Nach diesem eigenen Bekenntnisse der
Negierung werden ihre Blätter die Behauptung nicht mehr wagen können, daß
es hier zu Lande vortrefflich stehe, und daß dies nur von einigen wenigen
Gegnern der Regierung verleumderischerweise in der auswärtigen Presse anders
dargestellt werde. Man wird in Zukunft die Aeußerungen der Regierung und
der Landesgeistlichkeit selbst citiren können, um zu beweisen, daß ein überaus
großer Theil unserer Bevölkerung grade durch die Gesetzgebung und die In¬
stitutionen des Landes an den Rand des Abgrundes, in einen Zustand tiefster
Demoralisation geführt sei und daß der Vorschlag noch erst gemacht werden
soll, durch welchen man eine Rettung aus solcher Noth zu gewinnen hofft.

Bei der Verhandlung über diesen Gegenstand zerfiel die feudale Partei in
drei Fractionen, von denen jede eine schriftliche Darlegung ihrer Ansicht über¬
reichte.

Die eine Fraction, unter Führung des Landraths v. Plüskow, wollte jede
Veränderung der bestehenden Gesetze abgelehnt wissen. Durch Verschärfung
oder Erweiterung der Verbote, so argumcntirte sie, werde man den Zweck nicht
erreichen, rechte Sonntagsheiligung herbeizuführen und echte Kirchlichkeit zu
wecken, für den Augenblick sogar das Gegentheil, da die beabsichtigte Beschrän¬
kung, welche die arbeitende Classe allein und zwar sehr empfindlich träfe, nur
dazu dienen würde, Mißvergnügen, ja Erbitterung hervorzurufen und infolge
dessen den Kirchenbesuch noch mehr zu verringern. Das weltliche Gesetz dürfe
überhaupt nicht weiter gehen als bis zur Untersagung solcher Handlungen,
durch welche Andere in ihrer Sonntagsruhe gestört würden. Man soll den
Christen so wenig zur Heiligung des Sonntags als zum Besuch der Kirche mit
weltlicher Strafe zwingen. Dieser Grundsatz finde auch im Uebrigen Anerken-


Es ist ein sehr dunkles Bild, welches die Regierung hier, in Ueberein¬
stimmung mit der Geistlichkeit des Landes, von dem sittlichen Zustande eines
großen Theiles der Bevölkerung entwirft, und zugleich enthält das seinem In¬
halte nach mitgetheilte Schriftstück eine schwere Selbstanklage Seitens der Ur¬
heber einer Gesetzgebung, welche, wie sie selbst sagen, mit den Geboten Gottes
unvereinbar ist. Das Rescript redet zwar von Bedenken gegen die gewährten
Zugeständnisse. Es giebt aber darüber keine Auskunft, weshalb man nicht schon
damals, als man jene Befreiungen von der Befolgung des göttlichen Gebotes
den ländlichen Arbeitern aus Rücksicht auf die sonst entstehende Unmöglichkeit,
ihre eigene Wirthschaft aufrecht zu erhalten, einräumte, statt dessen den jetzt
eingeschlagenen Weg betrat. Bei dem allen verdient die Offenheit Anerkennung,
mit welcher jetzt die Regierung selbst, im Anschluß an den Nothschrei der Landes¬
geistlichkeit, den unter der Herrschaft des Feudalismus und der kirchlichen
Orthodoxie gepflegten und ausgebildeten heillosen Zustand schildert und den
Vorhang hinwegzieht, welcher bis dahin von der herrschenden Partei zur Ver¬
hüllung der Wirklichkeit benutzt wurde. Nach diesem eigenen Bekenntnisse der
Negierung werden ihre Blätter die Behauptung nicht mehr wagen können, daß
es hier zu Lande vortrefflich stehe, und daß dies nur von einigen wenigen
Gegnern der Regierung verleumderischerweise in der auswärtigen Presse anders
dargestellt werde. Man wird in Zukunft die Aeußerungen der Regierung und
der Landesgeistlichkeit selbst citiren können, um zu beweisen, daß ein überaus
großer Theil unserer Bevölkerung grade durch die Gesetzgebung und die In¬
stitutionen des Landes an den Rand des Abgrundes, in einen Zustand tiefster
Demoralisation geführt sei und daß der Vorschlag noch erst gemacht werden
soll, durch welchen man eine Rettung aus solcher Noth zu gewinnen hofft.

Bei der Verhandlung über diesen Gegenstand zerfiel die feudale Partei in
drei Fractionen, von denen jede eine schriftliche Darlegung ihrer Ansicht über¬
reichte.

Die eine Fraction, unter Führung des Landraths v. Plüskow, wollte jede
Veränderung der bestehenden Gesetze abgelehnt wissen. Durch Verschärfung
oder Erweiterung der Verbote, so argumcntirte sie, werde man den Zweck nicht
erreichen, rechte Sonntagsheiligung herbeizuführen und echte Kirchlichkeit zu
wecken, für den Augenblick sogar das Gegentheil, da die beabsichtigte Beschrän¬
kung, welche die arbeitende Classe allein und zwar sehr empfindlich träfe, nur
dazu dienen würde, Mißvergnügen, ja Erbitterung hervorzurufen und infolge
dessen den Kirchenbesuch noch mehr zu verringern. Das weltliche Gesetz dürfe
überhaupt nicht weiter gehen als bis zur Untersagung solcher Handlungen,
durch welche Andere in ihrer Sonntagsruhe gestört würden. Man soll den
Christen so wenig zur Heiligung des Sonntags als zum Besuch der Kirche mit
weltlicher Strafe zwingen. Dieser Grundsatz finde auch im Uebrigen Anerken-


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[0234] Es ist ein sehr dunkles Bild, welches die Regierung hier, in Ueberein¬ stimmung mit der Geistlichkeit des Landes, von dem sittlichen Zustande eines großen Theiles der Bevölkerung entwirft, und zugleich enthält das seinem In¬ halte nach mitgetheilte Schriftstück eine schwere Selbstanklage Seitens der Ur¬ heber einer Gesetzgebung, welche, wie sie selbst sagen, mit den Geboten Gottes unvereinbar ist. Das Rescript redet zwar von Bedenken gegen die gewährten Zugeständnisse. Es giebt aber darüber keine Auskunft, weshalb man nicht schon damals, als man jene Befreiungen von der Befolgung des göttlichen Gebotes den ländlichen Arbeitern aus Rücksicht auf die sonst entstehende Unmöglichkeit, ihre eigene Wirthschaft aufrecht zu erhalten, einräumte, statt dessen den jetzt eingeschlagenen Weg betrat. Bei dem allen verdient die Offenheit Anerkennung, mit welcher jetzt die Regierung selbst, im Anschluß an den Nothschrei der Landes¬ geistlichkeit, den unter der Herrschaft des Feudalismus und der kirchlichen Orthodoxie gepflegten und ausgebildeten heillosen Zustand schildert und den Vorhang hinwegzieht, welcher bis dahin von der herrschenden Partei zur Ver¬ hüllung der Wirklichkeit benutzt wurde. Nach diesem eigenen Bekenntnisse der Negierung werden ihre Blätter die Behauptung nicht mehr wagen können, daß es hier zu Lande vortrefflich stehe, und daß dies nur von einigen wenigen Gegnern der Regierung verleumderischerweise in der auswärtigen Presse anders dargestellt werde. Man wird in Zukunft die Aeußerungen der Regierung und der Landesgeistlichkeit selbst citiren können, um zu beweisen, daß ein überaus großer Theil unserer Bevölkerung grade durch die Gesetzgebung und die In¬ stitutionen des Landes an den Rand des Abgrundes, in einen Zustand tiefster Demoralisation geführt sei und daß der Vorschlag noch erst gemacht werden soll, durch welchen man eine Rettung aus solcher Noth zu gewinnen hofft. Bei der Verhandlung über diesen Gegenstand zerfiel die feudale Partei in drei Fractionen, von denen jede eine schriftliche Darlegung ihrer Ansicht über¬ reichte. Die eine Fraction, unter Führung des Landraths v. Plüskow, wollte jede Veränderung der bestehenden Gesetze abgelehnt wissen. Durch Verschärfung oder Erweiterung der Verbote, so argumcntirte sie, werde man den Zweck nicht erreichen, rechte Sonntagsheiligung herbeizuführen und echte Kirchlichkeit zu wecken, für den Augenblick sogar das Gegentheil, da die beabsichtigte Beschrän¬ kung, welche die arbeitende Classe allein und zwar sehr empfindlich träfe, nur dazu dienen würde, Mißvergnügen, ja Erbitterung hervorzurufen und infolge dessen den Kirchenbesuch noch mehr zu verringern. Das weltliche Gesetz dürfe überhaupt nicht weiter gehen als bis zur Untersagung solcher Handlungen, durch welche Andere in ihrer Sonntagsruhe gestört würden. Man soll den Christen so wenig zur Heiligung des Sonntags als zum Besuch der Kirche mit weltlicher Strafe zwingen. Dieser Grundsatz finde auch im Uebrigen Anerken-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 25, 1866, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341803_284469/234>, abgerufen am 26.06.2024.