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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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Die Majorität des preußischen Abgeordnetenhauses.

Als das preußische Abgeordnetenhaus im Januar dieses Jahres nach ein¬
jähriger Unterbrechung wieder zusammentrat, fand es eine doppelte Aufgabe
vor, eine alte und eine neue: die Erkämpfung seines von der Krone und dem
Herrenhause bestrittenen Budgetrechts und den Abschluß der Schleswig-hol¬
steinischen Verwicklung im nationalen Sinne. Das Abgeordnetenhaus indessen,
d. h. die in der Fortschrittspartei und im linken Centrum versammelte liberale
Majorität war sich nur der ersten dieser beiden Aufgaben deutlich bewußt.
Beschränktheit des Blickes bei der Masse der Abgeordneten und Mangel an
eigentlich anerkannten, wirklich leitenden Führern verhinderten bis in die aller¬
letzten Wochen einer langen Session hinein sogar jede ausdrückliche Verhandlung
über die brennendste und bedeutungsvollste aller deutschen Tagesfragen. Man
fürchtete schon bei ihrer bloßen Berührung zu zerfallen. Man sah und begriff
nicht, daß in ihr das Mittel lag, um die Regierung zur Anerkennung des
constitutionellen Finanzrechts zu zwingen.

Es wäre irrthümlich, anzunehmen, daß die Mehrheit des Hauses überhaupt
keinen Friedensschluß mit dem gegenwärtigen Ministerium gewollt habe. Bis
weit über die Mitte der Session hinaus war es noch jeden Augenblick möglich,
sie zu einem für die Regierung durchaus annehmbaren Vergleich zu bestimmen.
Mit dem siegreichen Kriege hatte sich der Wille oder die Hoffnung, die Armee¬
reform einfach wieder rückgängig zu machen, bei der großen Mehrzahl verloren;
nur einzelne unbelehrbare Köpfe hielten noch an einer so phantastischen Er¬
wartung fest. Damit war das Abgeordnetenhaus innerlich auf den Punkt vor¬
gerückt, auf welchem der König es haben wollte, als er die Aufrechthaltung
der Armeereform zum Mittelpunkt seiner ganzen politischen Haltung machte,
erst Schwerin, dann v. d. Heydt entließ, eine verfassungswidrige Preßver¬
ordnung sanctionirte und die büreaukratische Disciplinargewalt bis an die
äußerste Grenze gebrauchen ließ. Der König hatte in den Gemüthern der
Opposition den großen Zweck seiner Regierung erreicht: die Reorganisation des
Heeres wurde zwar noch immer nicht als gut, aber doch als nicht länger be¬
streitbar angesehn. Was noch daran bestritten wurde, war einestheils die


Grenzboten III. 186S. 1
Die Majorität des preußischen Abgeordnetenhauses.

Als das preußische Abgeordnetenhaus im Januar dieses Jahres nach ein¬
jähriger Unterbrechung wieder zusammentrat, fand es eine doppelte Aufgabe
vor, eine alte und eine neue: die Erkämpfung seines von der Krone und dem
Herrenhause bestrittenen Budgetrechts und den Abschluß der Schleswig-hol¬
steinischen Verwicklung im nationalen Sinne. Das Abgeordnetenhaus indessen,
d. h. die in der Fortschrittspartei und im linken Centrum versammelte liberale
Majorität war sich nur der ersten dieser beiden Aufgaben deutlich bewußt.
Beschränktheit des Blickes bei der Masse der Abgeordneten und Mangel an
eigentlich anerkannten, wirklich leitenden Führern verhinderten bis in die aller¬
letzten Wochen einer langen Session hinein sogar jede ausdrückliche Verhandlung
über die brennendste und bedeutungsvollste aller deutschen Tagesfragen. Man
fürchtete schon bei ihrer bloßen Berührung zu zerfallen. Man sah und begriff
nicht, daß in ihr das Mittel lag, um die Regierung zur Anerkennung des
constitutionellen Finanzrechts zu zwingen.

Es wäre irrthümlich, anzunehmen, daß die Mehrheit des Hauses überhaupt
keinen Friedensschluß mit dem gegenwärtigen Ministerium gewollt habe. Bis
weit über die Mitte der Session hinaus war es noch jeden Augenblick möglich,
sie zu einem für die Regierung durchaus annehmbaren Vergleich zu bestimmen.
Mit dem siegreichen Kriege hatte sich der Wille oder die Hoffnung, die Armee¬
reform einfach wieder rückgängig zu machen, bei der großen Mehrzahl verloren;
nur einzelne unbelehrbare Köpfe hielten noch an einer so phantastischen Er¬
wartung fest. Damit war das Abgeordnetenhaus innerlich auf den Punkt vor¬
gerückt, auf welchem der König es haben wollte, als er die Aufrechthaltung
der Armeereform zum Mittelpunkt seiner ganzen politischen Haltung machte,
erst Schwerin, dann v. d. Heydt entließ, eine verfassungswidrige Preßver¬
ordnung sanctionirte und die büreaukratische Disciplinargewalt bis an die
äußerste Grenze gebrauchen ließ. Der König hatte in den Gemüthern der
Opposition den großen Zweck seiner Regierung erreicht: die Reorganisation des
Heeres wurde zwar noch immer nicht als gut, aber doch als nicht länger be¬
streitbar angesehn. Was noch daran bestritten wurde, war einestheils die


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[0007] Die Majorität des preußischen Abgeordnetenhauses. Als das preußische Abgeordnetenhaus im Januar dieses Jahres nach ein¬ jähriger Unterbrechung wieder zusammentrat, fand es eine doppelte Aufgabe vor, eine alte und eine neue: die Erkämpfung seines von der Krone und dem Herrenhause bestrittenen Budgetrechts und den Abschluß der Schleswig-hol¬ steinischen Verwicklung im nationalen Sinne. Das Abgeordnetenhaus indessen, d. h. die in der Fortschrittspartei und im linken Centrum versammelte liberale Majorität war sich nur der ersten dieser beiden Aufgaben deutlich bewußt. Beschränktheit des Blickes bei der Masse der Abgeordneten und Mangel an eigentlich anerkannten, wirklich leitenden Führern verhinderten bis in die aller¬ letzten Wochen einer langen Session hinein sogar jede ausdrückliche Verhandlung über die brennendste und bedeutungsvollste aller deutschen Tagesfragen. Man fürchtete schon bei ihrer bloßen Berührung zu zerfallen. Man sah und begriff nicht, daß in ihr das Mittel lag, um die Regierung zur Anerkennung des constitutionellen Finanzrechts zu zwingen. Es wäre irrthümlich, anzunehmen, daß die Mehrheit des Hauses überhaupt keinen Friedensschluß mit dem gegenwärtigen Ministerium gewollt habe. Bis weit über die Mitte der Session hinaus war es noch jeden Augenblick möglich, sie zu einem für die Regierung durchaus annehmbaren Vergleich zu bestimmen. Mit dem siegreichen Kriege hatte sich der Wille oder die Hoffnung, die Armee¬ reform einfach wieder rückgängig zu machen, bei der großen Mehrzahl verloren; nur einzelne unbelehrbare Köpfe hielten noch an einer so phantastischen Er¬ wartung fest. Damit war das Abgeordnetenhaus innerlich auf den Punkt vor¬ gerückt, auf welchem der König es haben wollte, als er die Aufrechthaltung der Armeereform zum Mittelpunkt seiner ganzen politischen Haltung machte, erst Schwerin, dann v. d. Heydt entließ, eine verfassungswidrige Preßver¬ ordnung sanctionirte und die büreaukratische Disciplinargewalt bis an die äußerste Grenze gebrauchen ließ. Der König hatte in den Gemüthern der Opposition den großen Zweck seiner Regierung erreicht: die Reorganisation des Heeres wurde zwar noch immer nicht als gut, aber doch als nicht länger be¬ streitbar angesehn. Was noch daran bestritten wurde, war einestheils die Grenzboten III. 186S. 1

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/7>, abgerufen am 15.01.2025.