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Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

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zirksamtmann bei Streitigkeiten zwischen Fremden oder zwischen einem Fremden
und Einheimischen, wo beide schnellen Entscheid wünschen oder die Sache keinen
Verzug leidet, sechs ehrenwerthe, unparteiische Männer. die zu erscheinen
schuldig sind, zusammenruft und ihnen präsidire." "Wir dürfen," sagt unser
Verfasser, "den Kern dieser Einrichtung darin sehen, daß durchreisende Fremde
nicht aufgehalten werden sollten, aber auch ein Einheimischer, der in eine Dif¬
ferenz mit einem Fremden gekommen war, nicht durch dessen Abreise gefährdet
werden sollte." Gassengerichte waren eine in alter Zeit auf deutschem Boden
weitverbreitete Einrichtung. Durch Uri aber ging schon vor Jahrhunderten die
große Heerstraße von Deutschland nach Italien, daher trat hier das Bündniß
rascher Justizpflege ganz besonders hervor.

Uri ist kein reiches Land. Die Alpenwirthschaft nährt einen großen Theil
der Bevölkerung zur Genüge, doch giebt es auch häusig Familien, die in ärm¬
lichster Hütte leben, als Viehstand nur ein paar Ziegen haben und für gewöhn¬
lich im Sommer Ziegenmilch und Mehlbrei und im Winter Mehlbrei, Zieger
und Kartoffeln, Fleisch aber nur in dem traurigen Fall auf dem Tisch haben,
wo ihnen eine Ziege verunglückt ist. Einigen bringt das Suchen nach Kry¬
stallen Erwerb, an der Gotthardsstraße verdienen sich Fuhrleute, Spediteure
und Wirthe ihr Brod, aber doch giebts immer noch viele im Canton, welche
Unterstützung bedürfen. "Dennoch bin ich," sagt Osenbrüggen. "in Uri, abge-
gcsehen vom Seelisberge" wo halberwachsene, gut gekleidete Knaben sich nicht
scheuen, um Geld zu Tabak zu bitten, nur selten angebettelt worden, während
bekanntlich in manchen Gegenden der Schweiz die Bettelei recht systematisch
betrieben wird. Ein hübsches Stück aus diesem System ist es, was mir ein
Mann erzählte, der vor mehren Jahren sich die Hauptkirche in Schwyz hatte
besehen wollen. Als er eben eingetreten war, kam ein älterer Mann und bat
um eine Gabe. Auf die Frage des Fremden an den Bettler, wer er sei und
was er treibe, antwortete dieser: i bi z' Schwyz im Zuchthus."

In Uri wurde schon seit langer Zeit dem Armenwesen große Sorgfalt
gewidmet, und in dieser Richtung ist zunächst die Einrichtung der "Verwandt¬
schaftssteuern" bemerkenswerth. Die natürliche Pflicht der Familien, den Hilfs¬
bedürftigen aus ihrer Mitte die zur Existenz nothwendige Unterstützung zu ge¬
währen, ist von der Gesetzgebung geregelt. Nach dem Landbuch sollen vater¬
lose Kinder oder solche, deren Vater sie zu ernähren unfähig ist, desgleichen an¬
dere zur Erwerbung ihres Unterhalts untaugliche Personen von ihrer Verwandt¬
schaft verpflegt werden, und zwar soll stets der nächste Verwandtschaftsgrad
väterlicher Seite für sie eintreten, falls aber dieser unvermögend ist, von Grad zu
Grad weiter gegriffen werden. Die neuere Gesetzgebung hat zu Gunsten der
Familie die Gemeinden stärker in Anspruch genommen, deren Armenpfleger
sorgen sollen, daß alle Armen, auch Wittwen und Waisen. Allmendgärten bckom-


Grenzboten III. 186S. 39

zirksamtmann bei Streitigkeiten zwischen Fremden oder zwischen einem Fremden
und Einheimischen, wo beide schnellen Entscheid wünschen oder die Sache keinen
Verzug leidet, sechs ehrenwerthe, unparteiische Männer. die zu erscheinen
schuldig sind, zusammenruft und ihnen präsidire." „Wir dürfen," sagt unser
Verfasser, „den Kern dieser Einrichtung darin sehen, daß durchreisende Fremde
nicht aufgehalten werden sollten, aber auch ein Einheimischer, der in eine Dif¬
ferenz mit einem Fremden gekommen war, nicht durch dessen Abreise gefährdet
werden sollte." Gassengerichte waren eine in alter Zeit auf deutschem Boden
weitverbreitete Einrichtung. Durch Uri aber ging schon vor Jahrhunderten die
große Heerstraße von Deutschland nach Italien, daher trat hier das Bündniß
rascher Justizpflege ganz besonders hervor.

Uri ist kein reiches Land. Die Alpenwirthschaft nährt einen großen Theil
der Bevölkerung zur Genüge, doch giebt es auch häusig Familien, die in ärm¬
lichster Hütte leben, als Viehstand nur ein paar Ziegen haben und für gewöhn¬
lich im Sommer Ziegenmilch und Mehlbrei und im Winter Mehlbrei, Zieger
und Kartoffeln, Fleisch aber nur in dem traurigen Fall auf dem Tisch haben,
wo ihnen eine Ziege verunglückt ist. Einigen bringt das Suchen nach Kry¬
stallen Erwerb, an der Gotthardsstraße verdienen sich Fuhrleute, Spediteure
und Wirthe ihr Brod, aber doch giebts immer noch viele im Canton, welche
Unterstützung bedürfen. „Dennoch bin ich," sagt Osenbrüggen. „in Uri, abge-
gcsehen vom Seelisberge» wo halberwachsene, gut gekleidete Knaben sich nicht
scheuen, um Geld zu Tabak zu bitten, nur selten angebettelt worden, während
bekanntlich in manchen Gegenden der Schweiz die Bettelei recht systematisch
betrieben wird. Ein hübsches Stück aus diesem System ist es, was mir ein
Mann erzählte, der vor mehren Jahren sich die Hauptkirche in Schwyz hatte
besehen wollen. Als er eben eingetreten war, kam ein älterer Mann und bat
um eine Gabe. Auf die Frage des Fremden an den Bettler, wer er sei und
was er treibe, antwortete dieser: i bi z' Schwyz im Zuchthus."

In Uri wurde schon seit langer Zeit dem Armenwesen große Sorgfalt
gewidmet, und in dieser Richtung ist zunächst die Einrichtung der „Verwandt¬
schaftssteuern" bemerkenswerth. Die natürliche Pflicht der Familien, den Hilfs¬
bedürftigen aus ihrer Mitte die zur Existenz nothwendige Unterstützung zu ge¬
währen, ist von der Gesetzgebung geregelt. Nach dem Landbuch sollen vater¬
lose Kinder oder solche, deren Vater sie zu ernähren unfähig ist, desgleichen an¬
dere zur Erwerbung ihres Unterhalts untaugliche Personen von ihrer Verwandt¬
schaft verpflegt werden, und zwar soll stets der nächste Verwandtschaftsgrad
väterlicher Seite für sie eintreten, falls aber dieser unvermögend ist, von Grad zu
Grad weiter gegriffen werden. Die neuere Gesetzgebung hat zu Gunsten der
Familie die Gemeinden stärker in Anspruch genommen, deren Armenpfleger
sorgen sollen, daß alle Armen, auch Wittwen und Waisen. Allmendgärten bckom-


Grenzboten III. 186S. 39
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/283>, abgerufen am 15.01.2025.