Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Bezirk Ursern nur eine, die vier Dorfschaften, darunter Zumdorf, die kleinste
Dorfgemeinde der Schweiz, umfaßt. Urscru ist zwar mit Uri zu einer politischen
Einheit verbunden, sucht sich aber so viel Selbständigkeit als möglich zu wahren
und fügt sich nur ungern den Herren in Altorf. Ja früher maßte sich der
Bezirksrath in Andermatt, zum nicht geringen Verdruß dieser Herren auch wohl
in seinen Ausfertigungen das Prädicat "hohe Regierung" oder "hoher Thal-
rath" an, was dann Zurechtweisungen und 18S1 die Androhung einer Ord¬
nungsstrafe für Wiederholungsfalle zur Folge hatte.

Die 18S0 revidirte Verfassung von Uri enthält in ihren allgemeinen Bestim¬
mungen folgende das Staatswesen des Cantons besonders charakterisirende Sätze:

"Der schweizerische Canton Uri ist, Bundespflichten vorbehalten, ein sou¬
veräner Freistaat mit rein demokratischer Verfassung. Die Souveränetät beruht
im Volke, welches dieselbe unmittelbar in seinen verfassungsmäßigen Versamm¬
lungen durch Stimmenmehrheit ausübt. Das Volk giebt sich in diesen unmittel¬
bar selbst Verfassung und Gesetze."

"Die Religion des Cantons ist die christlich-römisch-katholische. Die
Ausübung des Gottesdienstes anderer anerkannter christlicher Konfessionen ist
jedoch frei."

"Alle Cantonsbürger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte. Es giebt keine
Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte, weder des Orts, der Geburt noch der
Familien oder Personen. Alle Cantonseinwohncr, welche Schweizerbürger sind,
sind vor dem Gesetze gleich."

"Die persönliche Freiheit eines jeden Cantonseinwohncrs ist gewährleistet.
Niemand kann verhaftet oder im Verhafte behalten werden außer in den vom
Gesetze bestimmten Fällen und auf die vom Gesetze vorgeschriebene Art."

Die oberste gesetzgebende Gewalt Uns ist die Landsgemeinde. Der Land¬
rath hat die Jninative in der Gesetzgebung, so daß alle Gesetzvorschläge von
ihm oder durch ihn und mit seinem Gutachten begleitet an die Landsgemeinde
komme". Die vollziehende Gewalt hat der Regierungsrath. Die ordentliche
Landsgemeinde versammelt sich jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai zu
Bözlingen an der Gard, eine kleine Stunde von Altorf unter freiem Himmel.
Außerordentliche Landsgcmeinden werden vom Landrath berufen, und dieser
kaun dazu durch ein "Sicbengeschlechtsbcgehren", d. h. durch wenigstens sieben
"aufrechtstehende" (unbescholtene) Männer aus sieben verschiedenen Familien,
veranlaßt werden. '

Die Formen der Landsgemeinde hat die neueste Zeit zwar mehrfach ver¬
ändert, immer aber hat eine solche Versammlung des Urnervvlks noch die Haupt¬
züge eines derartigen Volksrathcs in altgermanischer Zeit. Von bewaffnetem
Erscheinen der Theilnehmer an derselben, wie in Appenzell, ist nicht mehr die
Rede. Nachdem der Hauptgottcsdienst in Altorf beendet ist, sammeln sich auf


Bezirk Ursern nur eine, die vier Dorfschaften, darunter Zumdorf, die kleinste
Dorfgemeinde der Schweiz, umfaßt. Urscru ist zwar mit Uri zu einer politischen
Einheit verbunden, sucht sich aber so viel Selbständigkeit als möglich zu wahren
und fügt sich nur ungern den Herren in Altorf. Ja früher maßte sich der
Bezirksrath in Andermatt, zum nicht geringen Verdruß dieser Herren auch wohl
in seinen Ausfertigungen das Prädicat „hohe Regierung" oder „hoher Thal-
rath" an, was dann Zurechtweisungen und 18S1 die Androhung einer Ord¬
nungsstrafe für Wiederholungsfalle zur Folge hatte.

Die 18S0 revidirte Verfassung von Uri enthält in ihren allgemeinen Bestim¬
mungen folgende das Staatswesen des Cantons besonders charakterisirende Sätze:

„Der schweizerische Canton Uri ist, Bundespflichten vorbehalten, ein sou¬
veräner Freistaat mit rein demokratischer Verfassung. Die Souveränetät beruht
im Volke, welches dieselbe unmittelbar in seinen verfassungsmäßigen Versamm¬
lungen durch Stimmenmehrheit ausübt. Das Volk giebt sich in diesen unmittel¬
bar selbst Verfassung und Gesetze."

„Die Religion des Cantons ist die christlich-römisch-katholische. Die
Ausübung des Gottesdienstes anderer anerkannter christlicher Konfessionen ist
jedoch frei."

„Alle Cantonsbürger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte. Es giebt keine
Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte, weder des Orts, der Geburt noch der
Familien oder Personen. Alle Cantonseinwohncr, welche Schweizerbürger sind,
sind vor dem Gesetze gleich."

„Die persönliche Freiheit eines jeden Cantonseinwohncrs ist gewährleistet.
Niemand kann verhaftet oder im Verhafte behalten werden außer in den vom
Gesetze bestimmten Fällen und auf die vom Gesetze vorgeschriebene Art."

Die oberste gesetzgebende Gewalt Uns ist die Landsgemeinde. Der Land¬
rath hat die Jninative in der Gesetzgebung, so daß alle Gesetzvorschläge von
ihm oder durch ihn und mit seinem Gutachten begleitet an die Landsgemeinde
komme». Die vollziehende Gewalt hat der Regierungsrath. Die ordentliche
Landsgemeinde versammelt sich jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai zu
Bözlingen an der Gard, eine kleine Stunde von Altorf unter freiem Himmel.
Außerordentliche Landsgcmeinden werden vom Landrath berufen, und dieser
kaun dazu durch ein „Sicbengeschlechtsbcgehren", d. h. durch wenigstens sieben
„aufrechtstehende" (unbescholtene) Männer aus sieben verschiedenen Familien,
veranlaßt werden. '

Die Formen der Landsgemeinde hat die neueste Zeit zwar mehrfach ver¬
ändert, immer aber hat eine solche Versammlung des Urnervvlks noch die Haupt¬
züge eines derartigen Volksrathcs in altgermanischer Zeit. Von bewaffnetem
Erscheinen der Theilnehmer an derselben, wie in Appenzell, ist nicht mehr die
Rede. Nachdem der Hauptgottcsdienst in Altorf beendet ist, sammeln sich auf


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0278" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/283631"/>
          <p xml:id="ID_766" prev="#ID_765"> Bezirk Ursern nur eine, die vier Dorfschaften, darunter Zumdorf, die kleinste<lb/>
Dorfgemeinde der Schweiz, umfaßt. Urscru ist zwar mit Uri zu einer politischen<lb/>
Einheit verbunden, sucht sich aber so viel Selbständigkeit als möglich zu wahren<lb/>
und fügt sich nur ungern den Herren in Altorf. Ja früher maßte sich der<lb/>
Bezirksrath in Andermatt, zum nicht geringen Verdruß dieser Herren auch wohl<lb/>
in seinen Ausfertigungen das Prädicat &#x201E;hohe Regierung" oder &#x201E;hoher Thal-<lb/>
rath" an, was dann Zurechtweisungen und 18S1 die Androhung einer Ord¬<lb/>
nungsstrafe für Wiederholungsfalle zur Folge hatte.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_767"> Die 18S0 revidirte Verfassung von Uri enthält in ihren allgemeinen Bestim¬<lb/>
mungen folgende das Staatswesen des Cantons besonders charakterisirende Sätze:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_768"> &#x201E;Der schweizerische Canton Uri ist, Bundespflichten vorbehalten, ein sou¬<lb/>
veräner Freistaat mit rein demokratischer Verfassung. Die Souveränetät beruht<lb/>
im Volke, welches dieselbe unmittelbar in seinen verfassungsmäßigen Versamm¬<lb/>
lungen durch Stimmenmehrheit ausübt. Das Volk giebt sich in diesen unmittel¬<lb/>
bar selbst Verfassung und Gesetze."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_769"> &#x201E;Die Religion des Cantons ist die christlich-römisch-katholische. Die<lb/>
Ausübung des Gottesdienstes anderer anerkannter christlicher Konfessionen ist<lb/>
jedoch frei."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_770"> &#x201E;Alle Cantonsbürger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte. Es giebt keine<lb/>
Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte, weder des Orts, der Geburt noch der<lb/>
Familien oder Personen. Alle Cantonseinwohncr, welche Schweizerbürger sind,<lb/>
sind vor dem Gesetze gleich."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_771"> &#x201E;Die persönliche Freiheit eines jeden Cantonseinwohncrs ist gewährleistet.<lb/>
Niemand kann verhaftet oder im Verhafte behalten werden außer in den vom<lb/>
Gesetze bestimmten Fällen und auf die vom Gesetze vorgeschriebene Art."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_772"> Die oberste gesetzgebende Gewalt Uns ist die Landsgemeinde. Der Land¬<lb/>
rath hat die Jninative in der Gesetzgebung, so daß alle Gesetzvorschläge von<lb/>
ihm oder durch ihn und mit seinem Gutachten begleitet an die Landsgemeinde<lb/>
komme». Die vollziehende Gewalt hat der Regierungsrath. Die ordentliche<lb/>
Landsgemeinde versammelt sich jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai zu<lb/>
Bözlingen an der Gard, eine kleine Stunde von Altorf unter freiem Himmel.<lb/>
Außerordentliche Landsgcmeinden werden vom Landrath berufen, und dieser<lb/>
kaun dazu durch ein &#x201E;Sicbengeschlechtsbcgehren", d. h. durch wenigstens sieben<lb/>
&#x201E;aufrechtstehende" (unbescholtene) Männer aus sieben verschiedenen Familien,<lb/>
veranlaßt werden. '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_773" next="#ID_774"> Die Formen der Landsgemeinde hat die neueste Zeit zwar mehrfach ver¬<lb/>
ändert, immer aber hat eine solche Versammlung des Urnervvlks noch die Haupt¬<lb/>
züge eines derartigen Volksrathcs in altgermanischer Zeit. Von bewaffnetem<lb/>
Erscheinen der Theilnehmer an derselben, wie in Appenzell, ist nicht mehr die<lb/>
Rede. Nachdem der Hauptgottcsdienst in Altorf beendet ist, sammeln sich auf</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0278] Bezirk Ursern nur eine, die vier Dorfschaften, darunter Zumdorf, die kleinste Dorfgemeinde der Schweiz, umfaßt. Urscru ist zwar mit Uri zu einer politischen Einheit verbunden, sucht sich aber so viel Selbständigkeit als möglich zu wahren und fügt sich nur ungern den Herren in Altorf. Ja früher maßte sich der Bezirksrath in Andermatt, zum nicht geringen Verdruß dieser Herren auch wohl in seinen Ausfertigungen das Prädicat „hohe Regierung" oder „hoher Thal- rath" an, was dann Zurechtweisungen und 18S1 die Androhung einer Ord¬ nungsstrafe für Wiederholungsfalle zur Folge hatte. Die 18S0 revidirte Verfassung von Uri enthält in ihren allgemeinen Bestim¬ mungen folgende das Staatswesen des Cantons besonders charakterisirende Sätze: „Der schweizerische Canton Uri ist, Bundespflichten vorbehalten, ein sou¬ veräner Freistaat mit rein demokratischer Verfassung. Die Souveränetät beruht im Volke, welches dieselbe unmittelbar in seinen verfassungsmäßigen Versamm¬ lungen durch Stimmenmehrheit ausübt. Das Volk giebt sich in diesen unmittel¬ bar selbst Verfassung und Gesetze." „Die Religion des Cantons ist die christlich-römisch-katholische. Die Ausübung des Gottesdienstes anderer anerkannter christlicher Konfessionen ist jedoch frei." „Alle Cantonsbürger haben gleiche staatsbürgerliche Rechte. Es giebt keine Unterthanenverhältnisse, keine Vorrechte, weder des Orts, der Geburt noch der Familien oder Personen. Alle Cantonseinwohncr, welche Schweizerbürger sind, sind vor dem Gesetze gleich." „Die persönliche Freiheit eines jeden Cantonseinwohncrs ist gewährleistet. Niemand kann verhaftet oder im Verhafte behalten werden außer in den vom Gesetze bestimmten Fällen und auf die vom Gesetze vorgeschriebene Art." Die oberste gesetzgebende Gewalt Uns ist die Landsgemeinde. Der Land¬ rath hat die Jninative in der Gesetzgebung, so daß alle Gesetzvorschläge von ihm oder durch ihn und mit seinem Gutachten begleitet an die Landsgemeinde komme». Die vollziehende Gewalt hat der Regierungsrath. Die ordentliche Landsgemeinde versammelt sich jedes Jahr am ersten Sonntag im Mai zu Bözlingen an der Gard, eine kleine Stunde von Altorf unter freiem Himmel. Außerordentliche Landsgcmeinden werden vom Landrath berufen, und dieser kaun dazu durch ein „Sicbengeschlechtsbcgehren", d. h. durch wenigstens sieben „aufrechtstehende" (unbescholtene) Männer aus sieben verschiedenen Familien, veranlaßt werden. ' Die Formen der Landsgemeinde hat die neueste Zeit zwar mehrfach ver¬ ändert, immer aber hat eine solche Versammlung des Urnervvlks noch die Haupt¬ züge eines derartigen Volksrathcs in altgermanischer Zeit. Von bewaffnetem Erscheinen der Theilnehmer an derselben, wie in Appenzell, ist nicht mehr die Rede. Nachdem der Hauptgottcsdienst in Altorf beendet ist, sammeln sich auf

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/278
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 24, 1865, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341801_283352/278>, abgerufen am 15.01.2025.